Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Dritter Band. (3)

  
56 Philologie. X. Buch. 
  
sangs Frühling“ durch F. Vogt verspricht wenigstens für die Frühzeit eine Belebung 
der Diskussion. Den engern Zusammenhang der Literatur des Mittelalters mit der 
zeitgenössischen Gesellschaft und den führenden Kreisen zu ermitteln, ist man von mehr 
als einer Seite erfolgreich bemüht gewesen. 
Die Technik der Edition, die in den Arbeiten Lachmanns und seiner Schüler früh 
gereift war, ist in der Folgezeit und gerade auch im Anfang unseres Zeitabschnittes unter 
dem überwiegenden Einfluß der grammatischen Studien hier vernachlässigt worden, 
dort auf Abwege geraten, von denen auch Erscheinungen der letzten Jahre noch Zeugnis 
ablegen: das Vertrauen auf die Sicherheit sprachlicher Kriterien führte die einen zu 
gewagten Umschriften und Rekonstruktionen, die falsche Andacht vor der überlieferten 
Sprachform ließ die andern auf jede Betätigung der philologischen Kritik verzichten. Da 
war es eine erlösende Tat, als zwei Schüler Richard Heinzels (gest. 5. April 1905), 
Carl von Kraus und Konrad Zwierzina, sozusagen die Lachmannsche Methode wieder 
entdeckten und durch eine Fülle neuer Beobachtungen über die Sprache und Sprachkunft 
der großen mittelhochdeutschen Dichter bereicherten. Die neue Oiskussion metrischer 
Fragen, welche hauptsächlich durch Sievers hervorgerufen wurde, hat der Textkritik 
mittelhochdeutscher Dichter direkt nur geringen Ertrag gebracht. 
Auf dem Gebiete der Grammatik haben die Germanisten einerseits durch die 
Dialektforschung und anderseits durch das Studium der Entwicklung der Schriftsprache, 
an dem sich von Konrad Burdach bis Max Zellinek zahlreiche Gelehrte beteiligt haben, 
neue Gesichtspunkte und eine Verfeinerung der Methode gefunden, die auch solchen zu- 
gute kamen, die diesen Arbeitszweigen selbst fernerstanden. Ihre Fruchtbarkeit erwies 
sich vor allem in dem ersten Versuch einer zusammenfassenden deutschen Grammatik, 
den Wilhelm Wilmanns (gest. 29. Januar 1911) unternahm und der nach dem jähen 
Tode dieses ausgezeichneten Gelehrten, der wie kein zweiter unter uns Sprachwissen- 
schaft und Literaturwissenschaft vereinigte, nun leider ein Torso geblieben ist. 
Wie die Dialektforschung der historischen Grammatik, so ist die Volkskunde der deut- 
schen Mythologie zugute gekommen; sie hat ihre Entwicklung zu einer germanischen 
Religionsgeschichte wesentlich gefördert und zeitigt bei uns ähnliche Erscheinungen wie 
in der lassischen und orientalischen Altertumswissenschaft. Und hier zeigt sich stärker als 
auf irgendeinem anderen Gebiete das Bedürfnis und der Drang zu zusammenfassender 
Darstellung; in den letzten fünfundzwanzig Jahren sind von dem kleinen Büchlein 
F. Kauffmanns ab bis zu dem jüngst erschienenen Werke von K. Helm reichlich ein 
balbes Dutzend Versuche erschienen, Spstem und Geschichte, religiösen und dichterischen 
Sehalt der germanischen MUythologie im Zusammenhang llarzulegen. 
Auch in die Heldensage ist durch die Volkskunde neues Leben gekommen, zum Teil 
vermittelt durch die Anregungen von außen her, besonders von dem genialen Dänen 
Arel Olrik. Aber auch durch die Initiative deutscher Forscher, die zum Teil von Müllen- 
boff und Heinzel ausgingen, ohne an deren Lehren zu haften: O. L. Ziriczek, A. Heusler, 
F. Panzer, F. v. d. Lepen, H. Schneider u. a. Wenn bei Müllenhoff die Beschäftigung 
mit der Heldensage noch hauptsächlich der Aufdeckung verschütteter Mpthen galt, ist es 
heute das Bestreben der Gelehrten, dem dichterischen Wesen und Gehalt der Sagen 
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