X. Buch. V. Englische Philologie. 65
Bieles hat sich seitbem geändert. Das geflügelte Wort, wonach die Zukunft unseres
Volkes auf dem Wasser liegt, ist wahr geworden, am frühesten und deutlichsten dort,
wo sich unser Mittelgebirge dem Meere zuneigt. Man fand sich so nahe bei Britannien
und den Vereinigten Staaten, daß es notwendig wurde, die Sprache dieser Länder nicht
mehr bloß buchmäßig, sondern auch zu mündlichem und brieflichem Verkehr zu erlernen.
Zeder Gebildete, namentlich aber jeder Kaufmann, Techniker und Nationalökonom in
Preußen wollte sich aufs Englische verstehen und mit englischen Verhältnissen rechnen.
Das alte Gymnasium verschloß sich dem Drange der Zeit, anstatt ihn zu veredeln; es
bielt sich — außer in einigen maritimen Gauen — den Geist Shakesspeares und Carlyples
vom Leibe; von den humanités modernes genügten ihm die heimische und die fran-
zösische: um so mehr wurden Nealgymnasien und Oberrealschulen beliebt, besucht und
begründet. Man rief nach Lehrkräften des Englischen, und jetzt zogen Massen von Studie-
renden in die bisher ziemlich stillen anglistischen Hörsäle und Seminare. Eine Woge von
Realistik erhob sich in den industriellen Städten. Nachdrücklich forderte man vom einzigen
Professor, der an jeder Universität zur Stelle war, daß er nicht bloß für seine Wissenschaft
lehre, sondern zugleich für die Schule, für den Nutzen aller, für das nationale Interesse.
Zögernd und in halber Weise gab das llassische Spmnasium nach, richtete da und dort, wo
der Direktor nicht zu sehr dagegen war, englische Freikurse ein, und erlaubte später an
manchen Orten sogar, daß das Englische in den obersten Klassen obligatorisch wurde,
wenn auch nur auf Kosten des Französischen. Aber das Opfer, an sich praktisch, kam zu
spät — eines Tages stand der lateinlose Abiturient von der Oberrealschule gleichbe-
rechtigt innerhalb der philologischen Pforten. In Scharen setzte er sich an das Studium
von Jahrhunderten, deren höhere Bildung und schulmäßige Schriften, weil in Latein
niedergelegt, ihm verschlossen blieben; er unternahm es, Autoren wie Spenser, Milton,
Byron zu ergründen, die sogar mehr Griechisch konnten als Goethe oder Schiller; möglichst
ausschließlich aber wandte er sich naturgemäß jenem Studiengebiete zu, in dem allein
er sich zu Hause fühlen konnte: dem modernsten. Diese Verhältnisse zusammen ver-
schoben die Basis der Anglistik.
Was taten die Professoren?
Unsere Universitäten genießen nicht die Unabhängigkeit, wie sie etwa Oxford be-
sitzt, das sich selber aus altem Stiftungsvermögen erhält. Sie bekommen vom Staat
die Mittel, die Räume, die Hilfskräfte, bis zu einem gewissen Grade sogar die Art des
Schülermaterials, insofern sich dies nach den Vorschriften für die Vorbereitsschule und
die Abgangsprüfungen gestaltet. Sie sind daher gezwungen — oft ist es ein Glück —,
sich viel mehr als z. B. Oxford nach den Bedürfnissen des Staats, nach dem momentanen
Gebote des Gemeinwohls zu richten, und sollen dabei doch ihrer rein wissenschaftlichen
Pflicht unentwegt treu bleiben. Die anglistischen Professoren nahmen also, der eine
mehr, der andere weniger, den Gegenwartsbetrieb in ihr Programm auf und hielten
dabei nach Möglichkeit die bisherigen Arbeitslinien fest; sie gaben die mittelalterliche
Methode nicht preis, ergänzten sie aber mit der neuerenzsie zogen eine neue Front auf, ohne
die alte schwächen zu wollen. Man muß es versucht haben, was es heißt, eine lebende
Sprache sich selber säuberlich anzueignen, und erst, sie anderen beizubringen, um die
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