Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Dritter Band. (3)

  
86 Mathematik. X. Buch. 
  
„Die nähere Beschäftigung mit dem Gegenstande führte mich zu der Erkenntnis, 
daß der sostematische Aufbau einer allgemeinen Theorie der linearen Integralgleichungen 
für die gesamte Analysis, insbesondere für die Theorie der bestimmten Integrale und die 
Theorie der Entwicklung willkürlicher Funktionen in unendliche Reihen, ferner für die 
Tpeorie der linearen ODifferentialgleichungen sowie für die Potentialtheorie und Varia- 
tionsrechnung von höchster Bedeutung ist... Meine Untersuchung wird zeigen, daß die 
Theorie der Entwicklung willkürlicher Funktionen durchaus nicht die Heranziehung von 
gewöhnlichen oder partiellen ODifferentialgleichungen erfordert, sondern daß die Inte- 
gralgleichung es ist, die die notwendigen Grundlagen und den natürlichen Ausgangspunkt 
für eine Theorie der Reihenentwicklung bildet... Zugleich erhält dabei die Frage nach 
der Ezistenz der Eigenfunktionen eine neue und vollständigere Beantwortung ..Durch 
Anwendung meiner Theoreme folgt nicht nur die Ezistenz der Eigenfunktionen im all- 
gemeinsten Falle, sondern meine Theorie liefert zugleich in einfacher Form die notwendige 
und hinreichende Bedingung für die Ezistenz unendlich vieler Eigenfunktionen.“ Dem- 
Beispiele dieses Meisters eiferten seine begeisterten Schüler mit glücklichstem Erfolge 
nach, sodann aber auch viele andere deutsche und ausländische Mathematiker. 
In der allgemeinen Funktionentheorie wurde rüstig 
fortgearbeitet. Die von Riemann und Weierstraß 
stammenden fundamentalen Gedanken zogen bei ihrer 
Ausbreitung nun auch viele Kräfte des Auslandes in ihren Bann. In Frankreich streute der 
geniale Poincaré neue treibende Zdeen aus, die eine Reihe talentvoller junger Mathe- 
matiker zur eifrigen Mitarbeit begeisterten und dann rückwirkend auf Deutschland einen 
anfeuernden Einfluß ausübten. Die Prinzipien der Analysis wurden sorgfältig erörtert, 
und die schon früher erwähnten Gebiete der ganzen transzendenten und der automorphen 
Funktionen wuchsen unter der liebevollen Pflege. Zndem Poincaré den Namen 
„Fuchssche Funktionen“ und „Kleinsche Funktionen“ einführte, erkannte er mit seinem 
Gerechtigkeitssinne an, daß diese neuen Begriffe aus deutschen Arbeiten entsprossen 
waren. Ein näheres Eingehen auf die mannigfachen Fortschritte in den einzelnen Zwei- 
gen der Funktionentheorie müssen wir uns versagen; nur durch die Erwähnung 
einzelner literarischer Erscheinungen möge ein etwas lebensvolleres Bild erzeugt 
werden. 
Aus dem Nachlasse von Rie mann und aus Kollegienheften seiner Schüler sind zwei 
Ergänzungen zu seinen „Gesammelten Werken“ veröffentlicht: „Nachträge“, heraus- 
gegeben von M. Noether und W. Wirtinger, und „Vorlesungen über elliptische 
Funktionen“", herausgegeben von H. Stahl. — Unter dem bescheidenen Titel „Entwick- 
lungen nach oszillierenden Funktionen und Integration der Differentialgleichungen 
der mathematischen Phosik“ hat Burkhardt einen Bericht für die Deutsche Mathematiker- 
Vereinigung vollendet, der als ein Riesenwerk von 1804 Seiten durch die Verarbeitung 
aller bezüglichen Schriften eine Vorstellung von der Entwicklung der Funktionentheorie 
gibt. Die Theorie der elliptischen und der Abelschen Funktionen ist in verschiedenen zusam- 
menfassenden Lehrbüchern dargestellt worden. F. Schottky besonders hat die Forschung 
Ausbau der allgemeinen 
Funktionentheorie. 
  
  
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