102 Allgemeine Naturwissenschaft; Botanik; Abstammungslehre. X. Buch.
Leben hervortritt. An diese Antwort schließt sich aber sofort die neue Frage, ob durch solch
energetisches Rechenezempel das ganze Wesen des Lebens erklärt sei, und die Antwort
auf diese Frage gehört zu den viel umstrittenen der Gegenwart. Die einen behaupten,
das Leben gehe restlos auf in energetischen Prozessen, den andern scheint dies überaus
unwahrscheinlich zu sein.
Es sei betont, daß an der energetischen Gleichung des Stoffwechsels niemand rüttelt;
darin dürfte eine Tatsache von endgültiger Wahrheit ermittelt worden sein. Eine darauf
sich gründende energetische Maschinentheorie des Lebens wäre aber sicher eine weit-
gehende Abstraktion vom ganzen, vollen Leben. Näumen wir ein, daß alle Lebensvor-
gänge des Organismus, die sich unsrer sinnlichen Wahrnehmung darbieten, obgleich dafür
noch keineswegs ein ezakter Beweis zu erbringen ist, dermaleinst energetisch werden
erklärbar sein, so bleibt doch ein Rest von Erscheinungen übrig, der dazu nötigt, Tiere und
Pflanzen anders als Maschinen zu beurteilen.
Einen Teil solcher Erscheinungen hat man
allerdings schon frühzeitig in scharfblickender
Deutung maschinell zu erklären gesucht. So die Reizbarkeit der Organismen, indem man
sie mit den Auslösungsvorgängen an Maschinen vergleicht, wobei wieder J. K. Ma##e##
als einer der ersten zu nennen ist, die diesem Gedanken die Bahn zu brechen suchten.
Manche, ja zahlreiche Vorgänge des Wachstums und der Gestaltung der Pflanzen haben
sich von äußeren, energetischen Einwirkungen abhängig erwiesen, und daraus ist eine der
fruchtbarsten neueren Forschungsrichtungen, die experimentelle Morphologie, erwachsen.
Es gibt Gestaltungen am Organismus, die der Experimentator durch willkürliche Ein-
griffe hervorzubringen vermag; die oben erwähnten Chimären sind ein beredtes Beispiel
dafür. Während ferner niemand daran zweifelt, daß es prinzipiell möglich ist und dermal-
einst wohl gelingen wird, sämtliche organische Verbindungen, die innerhalb des Pflanzen--
körpers entstehen, auch durch künstliche Synthese in unseren Laboratorien herzustellen,
zeigt sich doch nicht der leiseste Schimmer einer Aussicht, auch einmal die einfachste lebende
Zelle künstlich erzeugen zu können. So sagen wir heute; es ist die gleiche Resignation,
die einst Kant aussprach, wenn er an der Möglichkeit der Herstellung eines Grashalms
oder einer NRaupe „aus Materie“ zweifelte.
In der Tat gehören zum Wesen der Organismen Erscheinungen, die sie fundamental
von allen Maschinen unterscheiden und die weder mechanisch noch energetisch sich erklären
lassen. Es ist das vor allem die Selbstbildung des Organismus in der Fortpflan-
zung und Entwicklung. Man zeige einmal eine Maschine auf, die in ihrem Innern
einen Keim absondert, aus dem durch Wachstum eine neue Maschine der gleichen Art
automatisch hervorginge! Schon an dieser Klippe scheitert jede umfassende Maschinen-
theorie des Lebens. Man braucht noch gar nicht einmal an die höheren Lebewesen, etwa
einen Hund oder einen Apfelbaum, zu denken und ihre Neubildung mit der einer Lokomotive
zu vergleichen; schon die Teilung eines Zellkerns enthält Momente, die sich nicht nach dem
Modell einer Maschinenbildung erklären lassen. Zugegeben ferner, daß in der Vererbung
die Chromosomen des Zellkerns Träger der Erblichkeit sind, so sind sie damit doch nichts
Sondererscheinungen des Lebens.
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