Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
110 Allgemeine Naturwissenschaft; Botanik; Abstammungslehre. X. Buch. 
  
gegangen sein dürften: von einem Beweise für diesen genetischen Zusammenhang kann 
indes nicht die Rede sein. Spuren aplazentarer Säuger (Beuteltiere) erscheinen schon 
in der Trias; doch erst im Tertiär begegnen uns die plazentaren, die eigentlichen Säuge- 
tiere, diese aber gleich in allen den Ordnungen (Raubtiere, Huftiere, Nagetiere, Affen 
usw.), die in der Gegenwart leben. Ferner gab es schon im Kambrium einzellige Tiere, 
die Radiolarien und Foraminiferen, die sich unter Beibehaltung des Typus, wenn auch 
unter Anderung der A#rten, bis in die Gegenwart in ihrem einzelligen Stadium erhalten 
haben. Warum haben sie sich nicht zu höheren, zu vielzelligen Typen fortentwickelt? 
fragt man unwillkürlich. Im Tertiär kommt eine Reihe von Tieren vor, die von der ver- 
gleichenden Morphologie als Vorläufer und Vorfahren des heutigen Pferdes gedeutet 
werden; zu einem wirklichen Beweise der Stammezgeschichte des Pferdes reichen sie 
aber nicht aus, nur zu einem allerdings wirkungsvollen Argumente für den genetischen 
Zusammenhang dieser Formen untereinander. Irgendein fossiles Tier, z. B. einen 
Affen, das als Vorfahr der ersten Menschen auch nur mit einem hinlänglichen Grade 
von Wahrscheinlichkeit in Anspruch genommen werden könnte, kennen wir nicht. 
Mit dem Pflanzenreiche steht es ähnlich. Die ältesten, gut erhaltenen Pflanzen½), 
die wir kennen, finden sich im Devon und im Karbon, der Steinkohlenperiode. Hier 
bildeten sie jene Wälder, deren sofsile Reste wir in unsern Ofen und Maschinen verbrennen. 
Diese alten Pflanzen waren Farne und Gymnospermen, also ganz hoch organisierte 
Gewächse, wie sie, wenn auch in andern Gattungen und Arten, heute noch vorkommen; 
bemerkenswert ist aber, daß die Farnpflanzen des Karbon großenteils einer höheren 
Organisationsstufe angehören, als die jetzt lebenden. In jenen alten Formationen fehlen 
die eigentlichen Blütenpflanzen (Angiospermen) noch völlig; sie fehlen auch in den fol- 
genden Perioden des Perm, der Trias, des Zura, in der unteren Kreide; sie erscheinen 
ganz unvermittelt in der oberen Kreide und zwar gleich in Gattungstypen, die heute noch 
leben, wie Magnolia, Tulpenbaum usw. Im Tertür sind alle Haupttypen der Gegen- 
wart vorhanden, in den unteren Schichten meist in abweichenden Arten; die Tertiär- 
flora wird auch in den Arten der lebenden Pflanzendecke um so ähnlicher, je jünger 
die Schichten sind; ein gleiches gilt von der Tertiärfauna. A#ber die zweifellosen Vor- 
fahren auch nur einer einzigen Pflanzengattung der Gegenwart hat man 
weder im Tertiär noch in der Kreide gefunden. 
Gewiß ist das Aktenmaterial der Paläontologie ein höchst lückenhaftes; die meisten 
Arten der früheren Tier- und Pflanzenwelt gingen zugrunde, ohne versteinerte Reste 
zu hinterlassen. Darum liefert die Palädontologie kein Argument gegen die Abstam- 
mungslehre. Ooch gegen die Tatsache, daß Krebse und Bracchiopoden schon im Kam- 
brium vorhanden waren, ist nicht aufzukommen. Unterhalb des Kambrium finden wir nur 
die versteinerungslosen kristallinischen Schiefer. Wir müssen also an unserm deszendenz- 
theoretischen Bilde starke Retouchen vornehmen, um der Vorstellung zu genügen, daß 
anfänglich Urzellen gegeben waren, oder noch einfachere Zellgebilde, als wir heute kennen, 
aus denen nach Analogie der individuellen Entwicklung die ältesten Krebse entstanden 
1) Gewisse Gebilde im Silur hat man als eine Art von Bornetella beschrieben; diese Algengattung 
kommt noch heute lebend vor. 
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