XI. Buch. Malerel und Plastik. 55
Kunst widerspiegelte sich diese Entwicklung nicht zum mindesten darin, daß das Porträt
stetig eine erhöhte Wertschätzung zurückgewann. Es wurde jetzt auch als ein in sich ge-
schlossenes Bildnis, nicht als ein Milieubild verlangt. Mit derartigen Aufgaben wuchs
gleichzeitig die Beobachtung, das detaillierte Studium des menschlichen Körpers. Auch
bier trieben zum Voranschreiten scheinbar abgelegene Ansichten und Vorstellungen, die
sich einen immer größeren Bruchteil unseres Volkes eroberten. Der Sport — hygienische
Nacktkultur trat hinzu — hatte die Prüderie besiegt, und Kenntnis wie Verständnis
der Körperwelt verallgemeinert. Was früher nur flüchtig angesehen, wurde jetzt von
beiden Geschlechtern ruhig betrachtet. Der Künstler stand dadurch auf einer breiteren
Basis, wenn er sich der Darstellung des Menschen um seiner Leibesschönheit willen
zuwandte. Wir begegnen jetzt wieder Bildern, die über das Motiv hinaus unbekleidete
Menschen, wie etwa bei einer Geißelung, darstellen, lediglich aus der Freude an dem
schönsten Gebilde, das die Erde trägt, und im Bewußtsein, einer richtigen Auffassung zu
begegnen. Erinnerungen an die Sinmesart der Renaissance dürfen sich hier einstellen. Aus
solchen enger und weiter greifenden künstlerischen Absichten heraus ist die deutsche Malerei
heute in den Besitz einer Nacktkunft gelangt, wie sie ihr in dieser künstlerischen Reinheit
und in solch sicherer und mannigfach gearteter malerischer Interpretation noch nie zu
eigen gewesen ist. Unter allen Umständen dürfen wir zunächst sagen, daß die Nacktmalerei,
deren Farbenbehandlung in nicht geringem Maße an altmeisterliche Werke erinnert, und
deren Oberflächenschilderung von einem derben Realismus (Corinth) zeugt, eine solche Voll-
endung besitzt, wie sie die deutsche Malerei noch nicht aufweisen konnte. Weiterhin
ist das BVermögen, feinste Lichtwerte auf der Haut malerisch darzustellen, ohne die Form
zu beeinträchtigen, außerordentlich hoch gestiegen, und endlich ist in den Nacktwerken der
Neoklassizisten eine solch sichere Zeichnung der plastischen Formwerte zu erkennen, daß
sie höchstes Lob verdienen. Wenn nicht alles täuscht, so scheinen wir im Begriff zu sein,
aus dem Studium der alltäglichen Formenwelt heraus eine erhöhte Gattung Mensch
in der Malerei entstehen zu lassen. Es gewinnt also den Anschein, als ob sich aus der
Weltkunft eine höhere Heimatkunst entwickeln wolle. Allerdings kann dies letzten Endes
nur auf der Grundlage von allgegenwärtigen Idealen geschehen, deren berufener Dol-
Monumentalmalerei. metscher die Wandmalerei ist.— Seit den neunziger Jahren
hören wir ernste Klagen, daß die fundamentalen Unterschiede
zwischen der Freskomalerei und dem leicht beweglichen Staffeleigemälde nicht genügend
anerkannt würden, so daß 1891 sogar ein Privatmann (von Biel) eine Summe zur
Ausbildung der Mkademieschüler in der echten Freskomalerei stiftete. Die Berechtigung
zu solch abfälligem Urteil ist nicht ohne weiteres abzuweisen. Es hat allerdings an
einer Pflege der Wandmalerei nicht gefehlt. Gerade in Preußen sind eine ganz
erhebliche Anzahl von Wandmalereien entstanden, und 1888 glaubte man mit der
Ausmalung des Zeughauses zu Berlin einen Höhepunkt der Monumentalmalerei
erreicht zu haben. Die Staatsbehörden, die Kommunen und Banken und Private
haben zudem fortgesetzt steigend Wandmalereien verlangt. Die Maler waren sich
auch durchaus klar darüber, daß „das realistische Studium durch die Anforderung
der Wand von selbst zum Stil werden — solle“, denn tatsächlich leiden die meisten
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