Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
66 Das Kunstgewerbe. XI. Buch. 
  
Hierbei konnte ein Rückschlag auf den Geschmack des Publikums natürlich 
nicht ausbleiben, zumal die Zeit ihre ganze Kraft in der Lösung technischer, wirtschaft- 
licher und politischer Probleme verbrauchte und keine Muße ließ, über andere Dinge 
nachzudenken. Man bemerkte es daher zunächst nicht, daß hier dem Volke wichtige Güter 
verloren gingen und kam erst zum Bewußtsein, als die Dissonanz zu dem Akkord des ge- 
waltigen Aufschwunges auf fast allen anderen Gebieten gar zu schneidend wurde. Die Un- 
haltbarkeit des geschaffenen Zustandes mußte allerdings der günstigste Boden für ein ein- 
setzendes Reformwerksein, und zwar sollte hierzu der Anstoß vom Auslande ausgehen. 
Einfluß Englands. In England, wo die Verhältnisse anders lagen als in den 
übrigen Ländern, hatte man schon damit begonnen. DOie 
isolierte Lage, die Weltmachtstellung, der Wohlstand und die politische Reife hatten hier 
dem Volke eine ruhige Fortentwicklung im 19. Jahrhundert garantiert und dem starken 
und vermögenden Bürgertum volle Muße gelassen, sein Leben zweckmäßig und behaglich 
einzurichten. Es konnte sich dort, wo ein Abbruch der Tradition im Grunde niemals 
stattgefunden hatte, eine Lebenskunst herausbilden, die für alle Schichten der Gesell- 
schaft einen gemeinsamen Typus darstellte. Dieser Typus fand seinen sichtbaren Aus- 
druck im Wohnhause, und zwar vorwiegend im Einfamilienhause, das infolge der eigen- 
artigen Grundbesitzverhältnisse in England vorherrschend war. Seine Durchbildung 
stellte Architekten und Handwerker vor eine ebenso hohe wie erzieherische Aufgabe. 
Oie vielen praktischen Fragen, die schon bei der Anlage eines Wohnhauses, besonders 
aber eines Landhauses zu beachten waren, das Ausklügeln der Wirtschaftsräume und 
aller der Bequemlichkeiten, an die der Engländer gewöhnt war, vor allem aber die hohen 
Ansprüche, die er an die Behaglichkeit seiner Räume stellte, führten nicht nur zu beson- 
deren Leistungen der Grundriß- und Raumgestaltung, sie zwangen zugleich dazu, auch dem 
kleinsten Detail eine peinliche Llufmerksamkeit zu schenken. So mußte sich der Sinn 
für das Zweckmäßige und Gediegene beleben und bei einem gleichzeitigen Studium 
der älteren heimischen Bauweise die Fähigkeit, das Wesentliche vom Unwesentlichen 
zu unterscheiden, geweckt werden. Die Aufklärungsarbeit eines John Ruskin und 
William Morris gewannen die Unterstützung weiterer Kreise des Publikums, besonders 
da sie nicht theoretisch blieb, sondern zu praktischen Versuchen überging. Zwar bewegte 
man sich zunächst noch in den Bahnen der Überlieferung, doch führte eine Vertiefung 
in die Aufgabe und ein Anpassen an die Technik ganz von selbst zu neuen Lösungen. 
  
Einfluß Ostasiens. Eine weitere Stärkung und Vereicherung erhielten die 
Bestrebungen durch die wachsende Kenntnis der Länder 
und Bölker Ostasiens. ODer erlesene Geschmack und die vollendete Technik, die die 
Erzeugnisse des dortigen Handwerks zeigten, mußten die gehaltlosen europäischen 
Fabrikate um so unbedeutender erscheinen lassen und gaben einen starken Ansporn zur 
Nacheiferung. Zwar war man bald von der Unmöglichkeit überzeugt, die Qualität dieser 
Stücke auch nur annähernd zu erreichen, doch suchte man ihnen, was man konnte, ab- 
zusehen, wenn man sich auch nicht an die besten Vorbilder hielt und das formale Aus- 
  
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