Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
XII. Buch. Das öffentliche Leben. 9 
  
kraten vergessen, daß nach dem Wort des großen Königs jeder Führer und Regierer immer 
nur der erste Diener seines BVolkes und Staates sei. Daß sie Diener ihrer Völker sind, 
das vergißt heute kaum mehr einer von unseren Fürsten; daß sie Diener des Publikums 
sind, vergessen manche Beamte nur zu leicht. 
Wenn wir nun an das Beamtenheer denken, das in Deutschland in die Millionen 
geht und nur immer mehr wächst, so könnte man fast gar geneigt sein, in erster Linie in 
ihnen das öffentliche Leben verkörpert zu sehen. Und ein gut Teil davon ist es wirklich. 
Daher kommt so viel an auf die Intaktheit dieser Träger des öffentlichen Dienstes von 
oben nach unten und von unten nach oben; sie ist sozusagen Barometer und Wertmesser 
für das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein gewisser elementarer Rechtlichkeits- 
und Rechtschaffenheitsbegriffe, auf denen — ich kann es nur noch einmal wiederholen — 
die Gesundheit unseres öffentlichen Lebens und seiner „Sitten“ beruht. Und das beste 
Jeichen, wie es damit bei uns steht, ist doch wohl das große Aufsehen, das etwa vor- 
kommende Ausnahmefälle erregen, und der Sturm der Entrüstung, der bei ihrem Be- 
kanntwerden uns alle erfüllt. Wir sind stolz auf diese heute selbstverständliche, aber im 
Wahrheit mühsam erworbene und in langer harter Arbeit großgezogene Intaktheit 
des deutschen Beamtentums, darum reagieren wir gegen jede Verletzung und gegen 
jedden Mißbrauch ganz besonders empfindlich und empört. 
Unserer im allgemeinen und gleichen Stimmrecht zum Ausdruck 
kommenden und durch dasselbe so demokratisch gewordenen An- 
schauung entspricht es aber doch mehr, als die Träger des öffentlichen Lebens nicht 
in erster Linie die Beamten, sondern vor allem die vom Bolk gewählten Bertreter 
anzusehen, in jeder Gemeinde die Gemeinde- oder Stadträte und Stadtverordneten, 
in jedem deutschen Einzelstaat die Landtagsabgeordneten, ganz besonders aber für das 
ganze Reich den deutschen Reichstag. So haben wir ein reich entwickeltes und mannig- 
fach abgestuftes parlamentarisches Leben, und in gewissen Zeiten des Zahres klappern 
in allen Hauptstädten die Parlamentsmühlen bald laut, bald leise, bald harmonisch, bald 
in starken Dissonanzen in die deutschen Lande hinein. Dabei gelten die nach dem 
Prinzip des allgemeinen Stimmrechts gewählten Volksvertreter in erster Linie als 
Ausdruck des öffentlichen Lebens; in Wahrheit aber sind es die ersten Kammern mit 
ihren gesetzlich festgelegten Korporationsvertretern oder ihren vom Landesherrn (in 
Elsaß-Lothringen vom Kaiser) ernannten Mitgliedern genau ebenso: nicht auf ihre 
Herkunft, sondern auf ihre Qualität und ihre Lebendigkeit und Lebensäußerungen 
kommt es an. 
Volksvertreter. 
  
Offentliche Meinung. Aber Ausdruck der öffentlichen Meinung sind aller- 
dings jene mehr als diese; und diese öffentliche Meinung 
steht freilich in einem besonders engen Zusammenhang mit dem öffentlichen Leben, 
wenn es auch nicht so ist, daß dieses in ihr allein und ganz in ihr sich ausspricht. In 
der öffentlichen Meinung ist, wie Hegel sagt, „alles Falsche und Wahre; sie enthält 
die ewigen substantiellen Prinzipien der Gerechtigkeit, den wahrhaften Inhalt und 
  
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