XII. Buch. Das öffentliche Leben. 21
frei bin oder von denen ich mich nur gewaltsam und unter Schmerzen loelösen kann.
Sohn und Enkel, Gemeindeglied und Staatsbürger, Katholik oder Protestant, das bin
ich ohne, zuweilen selbst gegen meinen Willen. Dagegen ob ich einem Verein beitreten
oder nicht beitreten, einen Verein gründen oder nicht gründen will, das steht bei mir,
der Zwang dazu ist Höchstens einmal ein moralischer und nur in ganz engen Verhältnissen
meiner Wahl und meiner Freiheit überhaupt entzogen. Dem Kegelklub „Alle neune“ nicht
beizutreten oder wieder aus ihm auszutreten, ist Sache meines Beliebens, und es gehört
selbst im Ueinsten und engsten Landstädtchen nicht eben viel Mut dazu. So zeigt sich der
Individualismus nicht im Gegensatz zu, sondern gerade recht in und auf dem Gebiet des
freien Vereinslebens, und wenn dieses bei uns besonders vielgestaltig entwickelt ist, so
widerspricht das nicht, sondern entspricht durchaus dem deutschen Individualismus und
dem germanischen Freiheitswillen.
Politische Parteibildung. Springen wir aber von dem indifferenten Regelklub
binüber zur politischen Vereins- und Parteibil-
dung, so tritt hier die Beziehung zum öffentlichen Leben und ihre Bedeutung dafür
ganz anders deutlich in die Erscheinung. Die Stimmen, die bei den Reichstagswahlen für
die einzelnen Parteien abgegeben werden, sind freilich nicht ohne weiteres Stimmen der
betreffenden Parteiangehörigen, der ausdrücklich bei ihnen eingeschriebenen Mitglieder.
Bei der Sozialdemokratie redet man besonders gern von „Mitläufern“; aber jede
Partei hat ihre Mitläufer, es gibt Tausende und Abertausende, die keiner politischen
Partei angehören und die dann wieder in solche zerfallen, die trotzdem regelmäßig
mit derselben Partei stimmen und in andere, die nicht einmal das tun, sondern
beute sozialdemokratisch und morgen liberal, heute konservativ und morgen fürs
Zentrum wählen. Von diesen stehen einzelne sozusagen über den Parteien, sie sind
über alle Parteieinseitigkeit und enge hinausgewachsen und wollen sich deshalb keiner
Partei anschließen, sondern wählen jedesmal, wenn sie zu wählen haben, das lleinere
UÜbel, wie man zu sagen pflegt, oder noch lieber: die bedeutendste und charaktervollste Per-
sönlichkeit, auch wenn deren politische Anschauungen nicht durchaus im Einklang sind
mit den ihrigen. Andere aber — und das wird die Mehrzahl dieser Mitläufer sein —
haben nicht so viel politisches Interesse, vielleicht auch nicht so viel politisches Verständnis,
um sich dauernd am politischen Leben zu beteiligen: sie besuchen in Wahlzeiten die eine
oder andere Versammlung, hören mehrere oder vielleicht auch nur den ihnen zum voraus
schon genehmsten Kandidaten und geben ihm ihre Stimme, damit ist für fünf Fahre ihr
politisches Interesse erschöpft und befriedigt. Endlich aber — und das sind die Schlimm-
sten — sind manche aus irgendwelchen Rücksichtten und Geschäftsinteressen zu feige, um sich
einer Partei offen anzuschließen, obwohl sie ihr innerlich angehören, oder sind heute
gerade verärgert und verstimmt und schlagen sich daher für dieses Mal zur radikalsten
Opposition; sie verlassen sich auf das geheime Abstimmen, wobei man wählen kann und
darf, wie man es aus irgendwelchen Gründen offen nicht wagen würde und nicht ver-
antworten möchte. Ist an diesen Feiglingen oder Temperamentspolitikern keiner Partei
allzuviel gelegen, sollte es wenigstens nicht sein, und muß die Partei darauf verzichten,
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