Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
22 Das öffentliche Leben. XII. Buch. 
jene erste Klasse der über sie Hinausgewachsenen für sich zu gewinnen, weil das an ihrer 
Uberlegenheit und ihrem Persönlichkeitswillen doch scheitern würde, so muß sie sich um 
so mehr Mühe geben, das Gros der Gleichgültigen in der Mitte für sich zu gewinnen 
und bleibend um ihre Fahne zu sammeln. Darin besteht die agitatorische Aufgabe der 
politischen Parteien und das versteht man unter der schon einmal genannten „Politisie- 
rung“ des Volkes, die also zunächst nichts anderes ist als der Ausdruck für den Expansions- 
trieb der einzelnen Parteien und für den Wunsch und Versuch derselben, ihre Stammrollen 
möglichst zu vermehren. Daß in dieser Parteiarbeit auch ein gut Teil staatsbürgerlicher 
Exrziehung steckt, dürfen wir freilich nicht vergessen: das ist der Gewinn, den die 
Offentlichkeit vom Parteileben hat. 
Jener Stamm ist es nun, der als geschlossene Partei zwischen den beiden Extremen 
in der Mitte steht und sozusagen die Cadres bildet für die Wahlkämpfe und Wahl- 
schlachten. Und er gliedert sich dann in den einzelnen Städten und Bezirken in politische 
Parteivereine, die in ruhigen Zeiten meist ein stilles und mehr oder weniger tatenloses 
Leben führen, in erregten Zeiten aber, vor allem in den Wochen und Tagen vor den 
Wahlen das öffentliche Leben in sich konzentrieren und die deutsche Welt mit Waffen- 
lärm und Kriegsgeschrei erfüllen. Daß dabei die Zahl der politischen Parteien bei uns 
in Deutschland eine so große ist, hängt aber doch wieder mit jenem germanischen Indivi- 
dualismus zusammen, auf dem kulturell unsere Stärke, politisch so lange Zeit unsere 
Schwäche beruht hat. Die Parteizersplitterung ist kein Glück, weder für die Parteien 
selbst, die dadurch nie stark genug sind, um für sich allein ihren Willen durchzusetzen, noch 
für die Regierungen, die im Reichstag und in den Einzellandtagen vielfach auf Zufalls- 
mehrheiten angewiesen sind. Wie in den Stichwahlen, so sind auch in den Parlamenten 
Koalitionen und Kompromisse nötig, an denen ihrer Unnatürlichkeit wegen häufig nie- 
mand eine Freude hat. Und doch liegt darin auch wieder etwas Gutes: ein eigentliches 
Parteiregiment und eine Parteiregierung ist dadurch unmöglich, und für den Staats- 
mann muß es, wie eine besondere Kunst, so eine ästhetische Freude sein, immer neu 
kombinieren und stets eine mittlere Linie suchen und finden zu müssen. 
Vier Hauptparteien. Immerhin zeigt sich, wenn ich recht sehe, ein Zug zur 
Vereinfachung und zur Beseitigung der allzu klei- 
nen Parteien und Parteisplitterchen auch bei uns. Bier Hauptparteien werden 
für absehbare Zeit immer bleiben: neben den Konservativen und den Liberalen, 
sozusagen den beiden legitimen und normalen Parteien des politischen Lebens über- 
haupt, das Zentrum, das als politische Partei die Interessen und Forderungen der 
deutschen Katholiken vertritt und so in eigenartiger Verschlingung kirchlich und 
politisch zugleich ist, und die Sozialdemokratie, die Vertreterin des vierten Standes, 
die ähnlich wie das Zentrum, ein doppeltes Ziel verfolgt, das politische der schranken- 
losen Demokratisierung von Volk und Staat, den sie sich nur als Republik denken 
kann, und auf wirtschaftlichem Gebiet als Standes- und Klassenpartei die Besserung 
der Lage der Arbeiterklasse mit Hilfe der Gesetzgebung, eine Arbeiterpartei also, die 
freilich nicht alle Handarbeiter und nicht bloß Handarbeiter umfaßt. Daß Liberale und 
  
1672
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.