Full text: 180 deutsche Musteraufsätze.

auf etwa eine Wegestunde weichen müssen. Die Creuzburger gingen 
früher vollständig in ihrer Landwirtschaft auf und hatten wenig Be- 
rührung mit der Außenwelt. Erst die seit drei Jahren eröffnete Bahn- 
linie Wartha-Treffurt schloß diesen Ort an das Verkehrsnetz an, und 
seit dieser Zeit macht sich auch ein Aufschwung auf industriellem 
Gebiete bemerkbar. So besitzt das Städtchen jetzt Wasserleitung 
Kanalisation, elektrisches Licht, zwei Zigarrenfabriken und eine im 
Entstehen begriffene Seidenweberei. Diese veränderten Verhältnisse 
aben auch einen günstigen Einfluß auf den Verdienst der ländlichen 
Arbeiter gehabt, der fast um das Doppelte gestiegen ist. Die Umgebung 
Creuzburgs ist zwar interessant zu nennen, ist aber nicht so bezaubernd 
wie die Deiner Heimat. Dicht nördlich der Stadt steigt der etwa 
300 m hohe Wisch, ein Kegelberg, auf; an diesen, durch eine tiefe 
Schlucht getrennt, reihen sich hoht, stark zerklüftete, steilabfallende 
Kalkfelsen, an denen noch zu meiner Kindheit Wein wuchs. Jenseits 
der Werra wechseln Felswände mit fruchtbaren Feldern ab. Das 
ganze Bild wird durch die Werra, die hier schon eine ganz angemessene 
Breite besitzt, ungemein belebt. Wer es unternimmt, den Wisch zu 
besteigen, wird durch die schöne Fernsicht reichlich belohnt. Das 
Stadtinnere macht den Eindruck eines Landstädtchens. In der Mitte 
steht das stattliche Schloß, ein Herrensitz der thüringischen Landgrafen, 
um dieses herum im Halbkreis die Wohnstätten der Bürger. Zwei 
große Marktplätze, drei Kirchen, davon eine im echt gotischen til, 
zwei Schulen, ein Rathaus, die Reste einer Stadtmauer und verschiedene 
gut erhaltene Türme geben Zeugnis, daß Creuzburg einst ruhmreiche 
und glanzvolle Tage erlebt hat. Die Straßen sind breit, durchweg 
gut gepflastert und zum größten Teil mit Bürgersteigen versehen. 
Wie schon gesagt, hat sich Creuzburg im letzten Fabrzehnt sehr zu 
seinem Vorteil verändert und macht jetzt den Eindruck eines wohl- 
habenden Landstädtchens, was zumeist der rührigen Tätigkeit seines 
jetzigen Bürgermeisters zuzuschreiben ist. 
Doch, lieber Freund, ich sehe Dich im Geiste ein langes Gesicht 
machen, weil ich bis jetzt noch nicht auf Dein Steckenpferd, die 
Geschichte, eingegangen bin. Ich weiß, daß Du Dich nicht wohl 
fühlst, wenn Du nicht die ganze Chronik Deines jeweiligen Aufent- 
haltsortes im Kopfe hast. Ferner weiß ich, daß nur Berühmtheiten 
und Altertümer anzichend auf Dich wirken. Aber beruhige Dich, 
Du wirst in jeder Beziehung befriedigt! Creuzburg. das alte 
Cruziburgium, ist ein bemoostes Haupt unter den Städten. Seine 
Gründung liegt beinahe 1300 Jahre zurück. Der Apostel Bonifazius 
kam im Jahre 722 in diese Gegend, predigte das Evangelium, 
errichtete auf dem Berge ein Kreuz und später ein Kloster. Hermann I., 
Landgraf von Thüringen, erbaute aus dem Kloster das noch erhaltene 
Schloh, bewirkte, daß sich die Bewohner von vier umliegenden 
Dörfern am Fuße des Berges ansiedelten, gab dieser Gemeinde 
Stadtrechte, erbaute die Marktkirche und versah die Stadt mit 
Mauern und Türmen. Die heilige Elisabeth weilte gern hier. Sie 
gebar hier ihren Sohn Hermann, der im 20. Lebensjahre auf dem 
Schloß vergiftet wurde, und erhielt an diesem Orte auch die Nachricht, 
daß sie Witwe geworden sei. In den thüringischen Erbfolgekriegen 
wurde die Stadt mehrfach belagert und zerstört, so im Jahre 1259 vom 
Herzog Albrecht von Braunschweig, 1296 von Adolf von Nassau und
	        
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