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Dieser Gedanke treibt uns an, das Leben richtig zu gebrauchen
und nicht die herrlichen Gaben Gottes unnütz zu vergeuden und
unter allen Umständen auch im äußersten Unglücke und in der ver-
weifeltsten Lage seine Hoffnung nicht sinken zu lassen, seinen Geist
huszubilden und Kenntnisse zu sammeln. Die Hoffnung begleitet
den Menschen durch sein ganzes Leben, und Schiller sagt ja:
„Die Hoffnung führt ihn ins Leben ein,
jie umflattert den fröhlichen Knaben,
en Jüngling locket ihr Zauberschein,
die wird mit dem Greis nicht begraben;
denn, beschließt er im Grabe den müden Lauf,
noch am Grabe pflanzt er — die Hoffnung auf."“
Die Geschichte bietet Beispiele in Menge dar. Demosthenes,
jener berühmter Redner des Altertums, schwang sich aus niederem
Stande zur höchsten geistigen Vollendung empor. Durch Ubung und
Ausdauer überwand er alle Mängel, womit ihn die Natur begabt
hatte; denn er hatte sowohl eine schwache Brust als auch eine
stotternde Sprache. Aber endlich ging er doch aus dem Kampfe mit
diesen Hindernissen, die manchen abgeschreckt haben würden, als
Sieger hervor und stand als Redner aller Redner da.
146. Des Lebens ungemischte Freude ward keinem
Irdischen zuteil.
(Schiller: „Ring des Polykrates.“)
Die Alten stellten die Glücksgöttin, Fortuna, als eine Frau dar,
welche auf einer sich fortwährend drehenden Kugel stand. Wie sich
diese Kugel stets bewegt, so verändert sich auch das Glück. Jeden
Augenblick kann sich das Schicksal wenden, jede Stunde das Glück
schwinden. Denselben Gedanken drückt Schiller in den Worten aus:
„Des Lebens ungemischte Freude
ward keinem FIrdischen zuteil.“
Diese Worte s bechen aus, daß noch kein Mensch von sich hat
sagen können, er 6 ein ganzes Leben hindurch glücklich gewesen.
In dem Augenblick, wo er sich glücklich wähnt, wo er glaubt, er
besitze das vollkommene Glück, wird dieses durch verschiedene Unfälle,
die der Mensch nicht vorhersehen kann, gestört. Ja, meistens tritt
das Unglück mehr an den Menschen heran, als das Glück. Ein altes
Sprichwort sagt: „Nach Eimern zählt das Unglück; nach Tropfen
zählt das Glück.“ Man soll auch im größten Glücke immer darau
denken, daß es vergänglich und nur ein kurzer Traum ist. Man
soll immer bereit sein, sich dem grausamen und unerbittlichen Un-
glück zu fügen, wo und wann es uns heimsucht. Wir sollen uns
nicht von dem Glücke einschläfern und sorglos machen lassen, sondern
im Gegenteil sollen wir immer das Unglück erwarten. Die Ge-
schichte bietet viele Beispiele zum Beweise dafür.
Krösus, der letzte König von Lydien, machte sich die klein-
asiatischen Griechen zinspflichtig, dehnte sein Reich im Osten bis
an den Halys aus und gewann teils durch die Eroberungen, teils
durch die Bergwerke und den Goldfund des Paktolus bedeutende