Full text: 180 deutsche Musteraufsätze.

— GVE —— 
Dieser Gedanke treibt uns an, das Leben richtig zu gebrauchen 
und nicht die herrlichen Gaben Gottes unnütz zu vergeuden und 
unter allen Umständen auch im äußersten Unglücke und in der ver- 
weifeltsten Lage seine Hoffnung nicht sinken zu lassen, seinen Geist 
huszubilden und Kenntnisse zu sammeln. Die Hoffnung begleitet 
den Menschen durch sein ganzes Leben, und Schiller sagt ja: 
„Die Hoffnung führt ihn ins Leben ein, 
jie umflattert den fröhlichen Knaben, 
en Jüngling locket ihr Zauberschein, 
die wird mit dem Greis nicht begraben; 
denn, beschließt er im Grabe den müden Lauf, 
noch am Grabe pflanzt er — die Hoffnung auf."“ 
Die Geschichte bietet Beispiele in Menge dar. Demosthenes, 
jener berühmter Redner des Altertums, schwang sich aus niederem 
Stande zur höchsten geistigen Vollendung empor. Durch Ubung und 
Ausdauer überwand er alle Mängel, womit ihn die Natur begabt 
hatte; denn er hatte sowohl eine schwache Brust als auch eine 
stotternde Sprache. Aber endlich ging er doch aus dem Kampfe mit 
diesen Hindernissen, die manchen abgeschreckt haben würden, als 
Sieger hervor und stand als Redner aller Redner da. 
146. Des Lebens ungemischte Freude ward keinem 
Irdischen zuteil. 
(Schiller: „Ring des Polykrates.“) 
Die Alten stellten die Glücksgöttin, Fortuna, als eine Frau dar, 
welche auf einer sich fortwährend drehenden Kugel stand. Wie sich 
diese Kugel stets bewegt, so verändert sich auch das Glück. Jeden 
Augenblick kann sich das Schicksal wenden, jede Stunde das Glück 
schwinden. Denselben Gedanken drückt Schiller in den Worten aus: 
„Des Lebens ungemischte Freude 
ward keinem FIrdischen zuteil.“ 
Diese Worte s bechen aus, daß noch kein Mensch von sich hat 
sagen können, er 6 ein ganzes Leben hindurch glücklich gewesen. 
In dem Augenblick, wo er sich glücklich wähnt, wo er glaubt, er 
besitze das vollkommene Glück, wird dieses durch verschiedene Unfälle, 
die der Mensch nicht vorhersehen kann, gestört. Ja, meistens tritt 
das Unglück mehr an den Menschen heran, als das Glück. Ein altes 
Sprichwort sagt: „Nach Eimern zählt das Unglück; nach Tropfen 
zählt das Glück.“ Man soll auch im größten Glücke immer darau 
denken, daß es vergänglich und nur ein kurzer Traum ist. Man 
soll immer bereit sein, sich dem grausamen und unerbittlichen Un- 
glück zu fügen, wo und wann es uns heimsucht. Wir sollen uns 
nicht von dem Glücke einschläfern und sorglos machen lassen, sondern 
im Gegenteil sollen wir immer das Unglück erwarten. Die Ge- 
schichte bietet viele Beispiele zum Beweise dafür. 
Krösus, der letzte König von Lydien, machte sich die klein- 
asiatischen Griechen zinspflichtig, dehnte sein Reich im Osten bis 
an den Halys aus und gewann teils durch die Eroberungen, teils 
durch die Bergwerke und den Goldfund des Paktolus bedeutende
	        
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