1028 Nachtrag.
Parlaments durch die Regierung zu ermöglichen und um die
Voraussetzungen zu schaffen für ein auf gegenseitigem Verständ-
nis, gegenseitigem Vertrauen beruhendes Zusammenarbeiten? (An-
schütz, Parlament und Regierung S. 91, 32.)
Ein erster praktischer Erfolg der Parlamentarisierungs-
bestrebungen zeigte sich bei dem Regierungswechsel im Spätherbst
1917., Die leitenden Ministerposten im Reiche und in Preußen,
die Amter des Reichskanzlers und seiner beiden nächsten Stell-
vertreter im Reiche und in Preußen (Generalstellvertreter des
Reichskanzlers, Vizepräsident des preußischen Staatsministeriums)
wurden damals mit Männern besetzt, die nicht als Beamte, sondern
als Parlamentarier groß geworden waren und der zur Zeit im
Reichstage herrschenden Parteienkoalition in führende Stellung
angehörten (Graf Hertling, v. Payer, Friedberg). Und der Reichs-
kanzler Graf Hertling hat sein Amt erst übernommen, nachdem
er sich mit jener Parteikoalition über sein Regierungsprogramm
verständigt und sich des Vertrauens der Reichstagsmehrheit ver-
sichert hatte. Viel stärker noch äußerte sich der Einfluß des
parlamentarischen Systems, als am 30. Sept. 1918 Graf Hertling
zurücktrat. Auf das Entlassungsgesuch des Zurücktretenden ant-
wortete der Kaiser (Erlaß vom 30. Sept. 1918, gegengezeichnet:
Graf Hertling): „Ich wünsche, daß das deutsche Volk wirksamer
als bisher an der Bestimmung der Geschicke des Vaterlandes mit-
arbeite. Es ist daher mein Wille, daß Männer, die vom Vertrauen
des Volkes getragen sind, in weitem Umfange teilnehmen an den
Rechten und Pflichten der Regierung, Ich bitte Sie, Ihr Werk
damit abzuschließen, daß Sie die Geschäfte weiterführen und die
von mir gewollten Maßnahmen in die Wege zu leiten.“ Der zum
Nachfolger Hertlings in Aussicht genommene Prinz Max von Baden
trat zunächst mit den Führern der Mehrheitsparteien in Verbin-
dung und wurde zum Reichskanzler ernannt, nachdem zwischen
ihm und den Parteien ein Einverständnis über den Eintritt führender
Mitglieder der Parteien in die Reichsleitung und über die Richt-
linien der Reichspolitik erzielt war. Und der neue Reichskanzler
eröffnete seine Amtstätigkeit mit einer Rede im Reichstag (5. Okt.
1918), worin er sein Programm entwickelte und die Vertrauens-
frage stellte. | ,
Als sich dieser Kanzlerwechsel vollzog, lag eine Anderung im
Verfassungsrecht des Reiches schon um einige Monate zurück, eine
andere stand nahe bevor.
I. Durch das Gesetz vom 24. August 1918 (RGBI 1079) wurde
die Zahl der Mitglieder des Reichstags um 44, also von 397 (vgl.
oben $ 129 S. 506) auf 441 erhöht. Die neuen Mandate wurden,
entsprechend den Anträgen des Verfassungsausschusses (oben 1027)
durchweg dichtbevölkerten, bis dahin im Reichstage verhältnis-
mäßig zu schwach vertretenen Orten, nämlich einerseits den größten
Städten, andererseits gewissen Industriebezirken zugeteilt (worin
zugleich, eingestandenermaßen, eine Beglinstigung derlinksstehenden