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warum der Reichskanzler vor versammeltem Reichstag und vor den lau-
schenden Ohren aller Welt von einer, wenn auch nur formalen Schuld
Deutschlands in der Angelegenheit der belgischen Neutralität sprach.
Nicht nur unsere offenen Feinde, auch alle uns mehr oder minder ab-
geneigten Leute unter den Neutralen gehen sichtbar mit diesem Zeugnis
des deutschen Kanzlers für Deutschlands Schuld hausieren und lassen sich
dieses Scheinargument durch keine noch so handgreifliche und vollgewich-
tige Wahrheit abkaufen. Uns kann auch das jetzt, wo es vor allem
auf Argumente der Tat ankommt, einigermaßen egal sein. Stimmungs-
mäßig aber tut es doch vielerlei Schaden. (Tägl. Rundschau, 15. Okt.)
Der Generalstab zur Lage.
Großes Hauptgquartier, 15. Oktober, mittags.
Bei Antwerpen wurden im ganzen 4000—5000 Gefangene gemacht.
Es ist anzunehmen, daß in nächster Zeit noch eine große Zahl belgischer
Soldaten, welche Zivilkleidung angezogen haben, dingfest gemacht wird.
Nach Mitteilungen des Konsuls von Terneuzen sind etwa 20 000
belgische Soldaten und 2000 Engländer auf holländisches Gebiet über-
etreten, wo sie entwaffnet wurden, und ihre Flucht muß in größter
Fast vor sich gegangen sein; hierfür zeugen Massen weggeworfener Klei-
dersäcke, besonders von der englischen Royal-Naval-Division.
Die Kriegsbeute in Antwerpen ist groß. Mindestens 500 Geschütze,
eine Unmenge Munition, Massen von Sätteln und Woylachs, sehr viel
Sanitätsmaterial, zahlreiche Kraftwagen, viele Lokomotiven und
Waggons, vier Millionen Kilogramm Getreide, viel Mehl, Kohlen,
Flachs, für 10 Millionen Mark Wolle, Kupfer und Silber im Werte von
etwa einhalb Millionen Mark, ein Panzer-Eisenbahnzug, mehrere
gefüllte Verpflegungszüge, große Viehbestände.
Belgische und englische Schiffe befanden sich nicht mehr in Antwerpen.
Die bei Kriegsausbruch im Hafen von Antwerpen befindlichen 34 deut-
schen Dampfer und drei Segler sind mit einer Ausnahme vorhanden;
jedoch sind die Maschinen unbrauchbar gemacht. Angebohrt und versenkt
wurde nur die „Gneisenau“ des Norddeutschen Lloyd.
Die große Hafenschleuse ist intakt, aber zunächst durch mit Steinen
versenkte Kähne nicht benutzbar, die Hafenanlagen sind unbe-
ädigt.
Die Stadt Antwerpen hat wenig gelitten. Die Bevölkerung ver-
hält sich ruhig und scheint froh zu sein, daß die Tage des Schreckens zu
Ende sind, besonders da der Pöbel bereits zu plündern begonnen hatte.
Die Reste der belgischen Armee haben bei Annäherung unserer
Truppen Gent schleunigst geräumt. Die belgische Regierung mit Aus-
nahme des Kriegsministers soll sich nach Le Havre begeben haben.
Angriffe der Franzosen in Gegend von Albert wurden unter erheb-
lichen Verlusten für sie abgewiesen; sonst im Westen keine Veränderungen.
Im Osten ist der russische, mit starken Kräften unternommene Vor-
stoß auf Ostpreußen als gescheitert anzusehen.
Der Angriff unserer in Polen Schulter an Schulter mit dem öster-
reichischen Heere kämpfenden Truppen befindet sich im Fortschreiten.
Unsere Truppen stehen vor Warschau. Ein mit etwa acht Armeekorps
aus Linie Jwangorod—Warschau über die Weichsel unternommener