Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Sechsundzwanzigster Jahrgang. 1910. (51)

20 Jas Neuische Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar 12.) 
aber nach Art. 50 Abs. 5 der Reichsverfassung als Landesbeamte angestellt 
werden. Diese Beamten haben infolgedessen zunächst den Charakter von 
Landesbeamten, sie haben den Diensteid der preußischen Beamten mit dem 
in Art. 50 Abs. 3 stehenden Zusatz geleistet, sie haben dem Könige von 
Preußen Treue und Gehorsam gelobt und eine gewissenhafte Befolgung 
der preußischen Verfassung. Schon aus diesem etwas mehr formalen Grund 
war es nicht möglich, die Reichsbeamten anders zu behandeln, als dies 
mit den preußischen Beamten geschehen ist. Die Beamten stehen grund- 
sätzlich in der Ausübung ihrer staatsbürgerlichen Rechte allen übrigen 
Staatsbürgern gleich. Die Freiheit der politischen Betätigung erfährt bei 
ihnen gewisse Einschränkungen, die sich aus der Stellung des Beamten zum 
Staat ergeben. Diese Einschränkungen sind nicht durchweg im einzelnen 
gesetzlich fest umschrieben, sie sind zum Teil Folgerungen des Treueides, 
den der Beamte geleistet hat, aber sie sind für den Takt und das Pflicht- 
gefühl des einzelnen Beamten unschwer erkennbar, und sie auch im vor- 
liegenden Falle zu erkennen, war gewiß nicht schwer. Es kann keinem 
Zweifel unterliegen, daß es mit der Stellung des Beamten unvereinbar 
ist, wenn er Bestrebungen unterstützt, die in ihrem letzten Ziel gegen den 
Bestand des Staates gerichtet sind. Bei dem schweren Ringen, das Preußen 
in seinen Ostmarken zu bestehen hat, handelt es sich darum, ob diese Landes- 
teile, die in der harten Arbeit vieler Menschenalter zu kulturell eben- 
bürtigen Gliedern des preußischen Staates geworden sind, der polnisch- 
slavischen Kultur anheimfallen und damit schließlich auch ihrer äußeren 
Loslösung vom preußischen Staate entgegengeführt werden. Wenn Preußen 
in diesem Akte nationaler Notwehr von seinen Beamten unbedingte Heeres- 
folge verlangt, so ist das sein gutes Recht und ein Akt der Selbsterhaltung. 
Die Regierungen des Deutschen Reiches, dessen Glieder sich zu einem ewigen 
Bunde zusammengeschlossen haben zum Schutz des Bundesgebietes und zum 
Schutze des in demselben geltenden Rechtes, verlassen den Boden, auf dem 
die Reichsverfassung ruht, wenn sie Preußen in diesem Kampfe verlassen. 
(Lebhaftes Bravo! r. und bei den Nl., Lärm und andauerndes Zischen bei 
Z., P. und l.) 
Abg. Gröber (3.): Belehrungen von Vorgesetzten über die Aus- 
übung staatsbürgerlicher Rechte braucht kein Beamter entgegenzunehmen. 
Gewiß, formell handelt es sich nicht um Strafversetzungen, denn die dürfen 
nur erfolgen unter Wahrung aller Kautelen des Beamtengesetzes. Welches 
sind denn aber die dienstlichen Interessen, die für die Versetzung gesprochen 
haben? Wir verlangen nähere Auskunft. Die versetzten Beamten tun doch 
in der neuen Stellung denselben Dienst wie in Kattowitz. Das Vorgehen 
des jetzigen Reichskanzlers erinnert an die schlimmsten Zeiten preußischer 
Wahlbeeinflussungen in den fünfziger Jahren und in der Koufliktszeit. 
Fürst Bismarck hat 1882 ausdrücklich im Reichstag erklärt, daß das Wahl- 
recht der Beamten vollständig frei sei. Niemals werde ein Beamter wegen 
der Ausübung des Wahlrechts gemaßregelt werden. Und wörtlich setzte 
Fürst Bismarck hinzu: „Wir werden uns sogar genieren, einem Beamten 
das anzutun, und ich würde nie die Hand dazu bieten.“ Selbst der 
Minister Puttkammer ist nicht so streng vorgegangen, als jetzt der Reichs- 
kanzler v. Bethmann Hollweg. Es ist soweit gekommen, daß die Beamten 
nicht mehr nach eigener Ueberzeugung abstimmen dürfen, sondern gewärtig 
sein müssen, eine mündliche Belehrung über die Ausübung ihres Wahl- 
rechts zu erhalten. 
Abg. Dr. Heinze (Nl.): Die Maßregelungen können nur richtig 
beurteilt werden aus dem Milien heraus. Wir müssen sie betrachten aus 
dem Gesichtspunkt der großpolnischen Gefahr. Die Polen halten fest an
	        
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