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verständnisse des contrat social, der ja geradezu die Negation des Individual-
rechts gegenüber der volonte generale zum Prinzip erhebt (das Ei des Ko-
lumbus!), sowie der unzureichenden Berücksichtigung der Natur der Unab-
hängigkeitserklärung, die aus äusseren und inneren Gründen nicht als Vorbild
des aufgestellten Systems von Grundrechten angesehen werden kann. Vorbild
sind vielmehr die bills oder declarations of rights gewesen, die die einzelnen
nordamerikanischen Staaten, zuerst Virginia, ihren Verfassungen voranstellten.
Eine S. 13—22 gegebene Nebeneinanderstellung der französischen Erklärung
und der amerikanischen Grundrechte macht die Richtigkeit dieser Annahme
augenfällig: „die Prinzipien von 1789 sind in Wahrheit die Prinzipien von
1776.“ Wie sind nun die Amerikaner zur Aufstellung solcher Grundrechte
gekommen? Es sind wesentlich die historisch sozialen Bedingungen, ins-
besondere die religiösen Verhältnisse, in denen die amerikanischen Kolonisten
lebten, die Einwirkung des in England vollständig entwickelten Gedankens
der reformirten Kirche mit ihrem souveränen religiösen Individualismus, die
hier als Agentien anzusehen sind. Von dem religiösen Gebiete hat sich die
Idee des individuellen Grundrechts auf das politische übertragen, so zwar,
dass die schliessliche Erklärung dieses Individualrechts als Grundstock der
Verfassungen nur die bestimmte Formulirung eines bereits bestehenden Zu-
standes war. In dieser verschiedenen Genesis: in Amerika aus den ge-
gebenen Verhältnissen heraus, in Frankreich im Gegensatz zu diesen, liegt
auch der Grund ihrer verschiedenartigen Wirkung; dort fördern sie die Ent-
wickelung geordneter Gemeinwesen, hier wirken sie zerstörend.
Die Ausbildung der geschilderten Staatsauffassung gerade in England
und seinen Kolonien findet endlich der Verf. in dem rein erhaltenen ger-
manischen Charakter des englischen Staates, im Gegensatze zu den kon-
tinentalen, begründet.
Die Abhandlung ist gewiss geeignet, wie der Verf. dies anstrebt, die
Ueberzeugung zu kräftigen, dass vor Allem aus der Geschichte der Institu-
tirung, die auf dem Boden der gesammten Kulturerscheinungen sich bewegt,
die im Rechte des modernen Staates ausgeprägten Gedanken zu begreifen sind.
Heft 4. Dr. Otis Harrison Fisk, Stimmrecht und Einzelstaat in
den Vereinigten Staaten von Nordamerika. VII u. 223 8.
M. 4.60.
Absicht der Schrift ist die Darstellung und Rechtfertigung des in den
Vereinigten Staaten herrschenden Zustandes, wonach das Recht, die Bundes-
beamten und die Volksvertretung des Bundes zu wählen, das sog. aktive
Wahlrecht im Bunde, der Festsetzung der Einzelstaaten überlassen ist. Diese
Befugniss wird durch historische Ausführungen gestützt, die den Willen des
„Geistes der Union“ darthun sollen, und durch rechtspolitische Erwägungen,
die aus der juristischen Natur des Verhältnisses des Centralstaates zu den
Unterstaaten erweisen wollen, dass die Beibehaltung des jetzigen Zustandes