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Das würde aber dann zu der merkwürdigen Konsequenz führen,
dass in der Reichsverfassung zwar der Fall vorgesehen ist, dass
Bundesfürsten ihre verfassungsmässigen Pflichten nicht erfüllen,
dass aber die Reichsverfassung keine Bestimmung enthält, was
geschehen soll, wenn Bundesstaaten ihre verfassungsmässigen
Pflichten nicht erfüllen.
Nach dem vorstehenden Befunde muss es nun zulässig er-
scheinen, in Art. 76 Abs. 1 für „Bundesstaaten“ zu setzen:
„Bundesglieder*, so dass dieser Absatz dann lauten würde:
„Streitigkeiten zwischen verschiedenen Bundesgliedern
werden auf Anrufen des einen Theiles von dem Bundesrathe
erledigt.“
Mit dieser Feststellung scheint mir aber der angeblich un-
abweisbaren, strengen Interpretation des Wortes Bundesstaaten in
Art. 76 Abs. 1 der Boden entzogen zu sein.
Hiernach ergiebt sich, dass der Bundesrath gemäss Art. 76
Abs. 1 für zuständig erachtet werden muss, Streitigkeiten zwischen
verschiedenen Bundesgliedern zu entscheiden, d. h. Streitigkeiten,
bei welchen Bundesfürsten oder Bundesstaaten die streitenden
Theile sind, unter der Voraussetzung, dass es sich um Streitig-
keiten nicht privatrechilicher Natur handelt und, dass einer der
streitenden Theile den Bundesrath anruft.
Zu. demselben Resultate gelangt man aber auch, wenn
man sich vergegenwärtigt, dass Art. 76 Abs. 1 der R.-V.
auf Art. 11 der Deutschen Bundesakte von 1815 beruht. Hier
heisst es:
„Die Bundesglieder machen sich ebenfalls verbindlich,
einander unter keinerlei Vorwand zu bekriegen, noch ihre Streitig-
keiten mit Gewalt zu verfolgen, sondern sie bei der Bundes-
versammlung anzubringen. Dieser liegt alsdann ob, die Ver-
mittlung durch einen Ausschuss zu versuchen; falls dieser
Versuch fehlschlagen sollte, und demnach eine richterliche Ent-
scheidung nothwendig würde, solche durch eine wohlgeordnete