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den Rahmen einzelner Verträge hinaus würde nur dann völker-
rechtlich vorhanden sein, wenn sich dieser Satz als Gewohnheits-
recht nachweisen liesse. Das ist aber nicht der Fall. Theore-
tisch ergibt sich hieraus insofern die schon erwähnte Lücke, als
unter Umständen dadurch ein sachgemässer Abschluss des Ver-
fahrens unmöglich werden könnte!%, In der Praxis wird man in
der Regel die Möglichkeit haben, um diesen Punkt herumzukom-
men; in welcher Weise das geschehen kann, gehört nicht hierher.
Dass Auslieferung, wie Nichtauslieferung in der Praxis tatsächlich
vorkommen, zeigen einmal die deutschen Bestimmungen für den
Dienst an Bord von 1903 und die Instruktion von 1877, die die
Uebergabe der Seeräuber an die zuständigen Behörden ohne wei-
tere Förmlichkeiten vorsehen, andererseits das belgische Ausliefe-
rungsgesetz von 1868, wonach Piraterie im Sinne des Völkerrechts
kein auslieferungsmässiger Tatbestand ist !%,
Ein besonderer Fall bedarf hier noch der Erwähnung: es
ist nach dem heutigen Stande des Völkerrechtes denkbar, dass
ein Seeräuber die Staatsangehörigkeit seines Heimatstaates ver-
loren hat, ohne eine andere erworben zu haben, und dass er
infolgedessen in dem Augenblicke, wo er aufgegriffen wird, nach-
weisbar einem bestimmten Staate der Völkerrechtsgemeinschaft
überhaupt nicht angehört. In diesem, aber auch nur in diesem
Falle, ist dann nach den Grundsätzen zu verfahren, die die
herrschende Lehre für die Behandlung der Seeräuber als allge-
mein giltig hinzustellen sucht: der Staat hat dann nicht nur die
gewohnheitsrechtlich anerkannte Befugnis zur Festnahme des
Piraten, sondern auch die unbeschränkte Strafkompetenz. Das
hat seinen Grund aber auch dann nicht darin, dass der Pirat
durch das Delikt „denationalisiert“ ist, sondern darin, dass
er in diesem Falle von vornherein eine Staats-
10% Schon deshalb kann man nicht, wie STIEL es tut, auf den seepolizei-
lichen Tatbestand der Piraterie ausschliesslich Wert legen.
ı% Vgl. v. Martıtz, Rechtshilfe II, 682.