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ohne Zweifel den Ausdruck „gerichtliche oder disziplinarische
Verfolgung“ in einem möglichst weiten Sinn verstanden wissen
und um dieses auszudrücken, kann man den Zusatz, dass der
Abgeordnete auch sonst nicht zur Verantwortung gezogen wer-
den dürfe, gemacht haben. Die Bestimmung des Art. 30 ist
aus der Verfassung von 1849 übernommen. Damals war das
strafgerichtliche Verfahren in den verschiedenen Bundesstaaten
ganz verschieden, es war namentlich noch der alte Inquisitions-
prozess vorherrschend. Man kann es daher nicht als überflüssig
ansehen, wenn dem Ausschluss der gerichtlichen oder disziplina-
rischen Verfolgung noch hinzugefügt ist, dass der Abgeordnete
auch anderweitig nicht sollte zur Verantwortung gezogen werden
können. Dieser letztere Ausdruck hatte insbesondere in dem
Vorschlag des Verfassungsausschusses der Nationalversammlung
insofern einen guten Sinn, als in diesem Vorschlage nur die
gerichtliche Verfolgung, nicht die disziplinarische, besonders aus-
geschlossen - war, die letztere wurde nur durch die allgemeine
Bestimmung in dem Schlusssatz betroffen. Der Ausdruck „dis-
ziplinarisch* ist im Plenum der Nationalversammlung hinzu-
gesetzt. Es hätte keinen Sinn gehabt, deswegen die Bestimmung,
dass der Abgeordnete auch sonst nicht zur Verantwortung ge-
zogen werden dürfe, zu ändern oder in Wegfall zu bringen.
Der Schlusssatz enthielt höchstens etwas Ueberflüssiges.
Uebrigens hat die fragliche Bestimmung auch nach meiner
Auffassung in einer Beziehung einen guten Sinn. Nimmt man,
wie ich, an, dass unter gerichtlicher Verfolgung die Verfolgung
durch das Gericht zu verstehen ist, so würde die frühere Privat-
injurienklage zulässig gewesen sein, wenn nicht der Zusatz ge-
macht wäre, dass der Abgeordnete auch sonst wegen seiner
Aeusserungen nicht zur Verantwortung gezogen werden dürfe.
Dazu kommt, wie oben ausgeführt, dass die Vorschrift des
Art. 30 strikt zu interpretieren ist, und dass in dem Artikel nur
dann eine Ausnahme von den allgemeinen Rechtsregeln gefunden