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die zuweilen einen Dienst tun konnten, nie ernsthaft von ihr
Gebrauch gemacht, und heute beginnt man allgemein, nüchterner
zu denken. Handelt es sich um eine Auslieferungsvereinbarung,
so sucht man in den beiden Strafgesetzbüchern den Bestand her-
aus, den man als gemeinsamen ansehen kann oder will, und füllt
damit den Katalog der extraditionsmässigen Reate. Wie diese
von dritten Staaten beurteilt werden, ist gleichgültig. Ursprüng-
lich hatte es schon eine gewisse Berechtigung, sich mit den we-
nigen Delikten, die man den Verträgen einverleibte, in Ueber-
einstimmung mit den anderen Staaten zu glauben, und die ersten
Aeusserungen jener Ansicht wollen überhaupt nicht viel mehr,
als auf diese Tatsache hinweisen !!. Im Lauf der Zeiten ist
aber daraus ein angebliches Rechtsprinzip geworden, bei dem
man es liebte, die Harmonie mit der morale universelle zu be-
tonen. So kam man notwendig auf ein totes Geleise. Heute
lassen sich solche Anschauungen unschwer durch das positive
Recht widerlegen. Das deutsche Auslieferungsrecht kennt nur
die Klausel beiderseitiger Strafbarkeit. Universelle Strafbarkeit
bedeutet für uns eine Redensart, keine Rechtsregel.
3. Titel. Die Reziprozität im prozessualen ÄAuslieferungsrecht und den
Nebenmaterien.
34. Die Reziprozität als beherrschendes Prinzip bleibt nicht
auf das materielle Auslieferungsrecht beschränkt; sie durchdringt
in gleicher Weise das prozessuale. Obschon sie sich hier
in mancher Beziehung noch augenfälliger nachweisen lässt !!!,
entbehrt sie doch des gleichen praktischen Interesses, weil die
110 Das ist hier und da der Sinn auch in neueren Arbeiten, siehe z. B.
v. BAR, Internationales Privat- und Strafrecht S. 591 und TAunay p. 21.
11l In manchen Beziehungen ist die Reziprozität im prozessualen Recht
auch nicht vorhanden. Es ist dies der Teil des Verfahrens, der eine res
interna des um Auslieferung angegangenen Staates ist, und der in den Ver-
trägen selten erwähnt oder höchstens durch einfache Bezugnahme berührt
ist. Deshalb schalten diese Teile hier aber auch aus. Vgl. v. MARTITZ,
Rechtshilfe Bd. 2 8. 762.