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2. Abschnitt. Der Begriff der Reziprozität.
35. Die bisherigen Ausführungen sollten ein Doppeltes er-
geben: Einmal, dass die Reziprozität den Redaktoren beim Ab-
schluss der Verträge als Maxime vorschwebte, dass sie leitender
Gedanke bei ihrer Beurkundung war; und dann, dass die Kon-
ventionen selbst auf ihr als ihrem Grundgedanken angelegt sind,
dass sie in ihnen ein vielfach ungenanntes, aber nachweisbares
Leben führt. Motiv und Erfolg harmonieren in der Verwirk-
lichung der Gegenseitigkeit. Ihre erste Aufgabe, den Vertrag
nach ihrem Sinn zu gestalten, hat sie mit seinem Abschluss be-
endet; von diesem Augenblick an wird sie in ihrer Eigenschaft
als Triebfeder für den Unterhändler, als Zweck seiner Bemüh-
ungen, gegenstandslos. Sie wirkt nunmehr in der zustandege-
kommenen Vereinbarung in anderer Bedeutung weiter, indem sie
die Rolle eines ergebnisreichen Interpretationsgrund-
satzes übernimmt. Diesen möglichst genau zu erfassen, wie
er sich auf den entwickelten Grundlagen aufbaut, muss versucht
werden, denn als ein Prinzip des positiven Rechts wird er min-
destens eine annähernde Formulierung gestatten. In ihm er-
scheint die Reziprozität als eine Rechtsregel, als ein Rechtsbe-
griff, und es kann dem Versuche, seinen Inhalt in möglichst
positiver Definition zu umschreiben, nicht ausgewichen werden.
Dabei muss das geltende Auslieferungsrecht die Grundlage bilden.
36. Die Reziprozität als Auslegungsprinzip hat ihren Wir-
kungskreis hauptsächlich im materiellen Auslieferungsrecht, wie
denn auch hier ihre grundsätzliche Beobachtung auf der Basis
der Klausel beiderseitiger Strafbarkeit die grössten Schwierig-
keiten verursachte. Ihre Geltung greift aber über dieses hinaus
und erstreckt sich auf das gesamte Rechtshilfegebiet in jenem
weiten Sinne, in dem man darin auch die regelmässig mitgeord-
neten Nebenmaterien einbegreift. Um aber den Inhalt dieser
Gegenseitigkeit untersuchen und erörtern zu können, ist eine