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auf die Mitwirkung mehrerer Staaten angewiesen ist, scheint
geradezu auf Invizinität zugeschnitten. Jeder Staat hat das
Interesse, kein grösseres Unrecht auf seinem Gebiet ungeahndet
geschehen zu lassen; jeder muss die angedrohte Strafe eintreten-
denfalls mit möglichster Gewissheit auch zur Vollstreckung brin-
gen können. Seiner territorialen Beschränkung wegen ist aber
jeder genötigt, den Nachbarstaat um seine Unterstützung zu
bitten, sobald der Verbrecher die Grenzen des Landes über-
schritten hat. Umgekehrt befindet sich der Nachbarstaat in der
gleichen Lage. Und so treibt der konsequente Egoismus, der
im internationalen Verkehr ein herrschender Faktor ist, die
Staaten zu allgemeinen Verträgen über die gegenseitige Aus-
lieferung der Verbrecher °. Charakteristisch kehrt dieser Ge-
danke in den Einleitungen zu den Auslieferungskonventionen
immer wieder. Man führt darin regelmässig aus, man habe es
als zweckdienlich erkannt, eine Uebereinkunft zu treffen „wegen
gegenseitiger Auslieferung“ der Verbrecher, pour l’extra-
dition r&eciproque, para la extradicion reciproca; Ver-
brecher sollten „gegenseitig ausgeliefert werden“, be reci-
procally delivered up; es sei die Absicht, tot regeling der
wederkeerige uitlevering einen Vertrag zu schliessen ?®° —
und wie sonst die Wendungen in den verschiedenen Idiomen
lauten mögen. Sie alle bringen freiwillig, unfreiwillig zum Aus-
druck, dass die Abrechnung über die gegenseitigen Ausliefe-
rungen ergeben hat, man nehme am besten eine Art Aufrech-
nung vor, indem man nicht mehr jede einzelne Gefälligkeit auf
der einen Seite durch eine gleiche auf der anderen erwidere, son-
dern grosszügiger annehme, dass die Summe der Bemühungen
in Auslieferungssachen, wenn allgemein als Pflicht übernommen,
auf beiden Seiten in etwa gleich gross sein werde, sodass man
25 Vgl. die Ausführungen des«deutschen Reichsgerichts bei METTGEN-
BERG, die Praxis des Reichsgerichts S. 399 fg.
26 Deutschen Reichsverträgen entnommen.