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zu begründen. „In diesen Zustand des Zwanges zu {reten“, führt
Kant dann wörtlich aus „zwingt den sonst für ungebundene
Freiheit so sehr eingenommenen Menschen die Not; und zwar
die grösste unter allen, nämlich die, welche sich Menschen unter
einander selbst zufügen, deren Neigungen es machen, dass sie
in wilder Freiheit nicht lange neben einander bestehen können“ ?°,
Wenn also auch vermittelnd, so urgiert KAnT doch die Idee,
dass die Menschen ursprünglich in wilder Freiheit nebeneinan-
der gelebt, und dass sie sich dadurch gegenseitig in die grösste
Not gebracht hätten. Dieser zu entgehen, hätten sie sich zur
Gesellschaft zusammengeschlossen.
Für diesen Zustand der Ungeselligkeit der Menschen haben
wir die treffliche, geradezu plastische Schilderung HoMERS, die,
welche er von den Oyklopen entwirft*!. Sie leben ohne Gesetze,
so beschreibt er ungefähr ihren Zustand und damit den status
naturalis der Menschheit überhaupt; sie wissen weder etwas von
unsterblichen Göttern, noch beflanzen sie mit ihren Händen eine
Anpflanzung oder pflügen; sondern wohnen in Höhlen auf den
Gipfeln bewaldeter Berge; jeder spricht Recht über Frauen und
Kinder, und sie kümmern sich nicht umeinander.
Also einzelne Familien, in denen der Vater der alles ge-
bietende Herr ist, hausen so neben —, nicht miteinander ; fügen
sich, dürfen wir mit HoBBES und KAnT nunmehr fortfahren, alle
mögliche Not zu, und es besteht ein bellum omnium contra omnes
unter ihnen, ganz wie in der Natur auch, ein struggle for life,
ein Kampf um die besten der natürlichen Futterplätze, in dem
nur die kräftigsten leben bleiben; mit einem Worte: es ist der
Naturzustand der Gattung Mensch, dessen Möglichkeit sich sicher
nicht bestreiten lässt**. Der Mensch ist also nicht pöoeı noAt-
“0 8, 148.
“1 HoMzrı Od. IX, 106—115. Den von Natur ungeselligen Menschen
kennt übrigens auch ARISTOTELES, Politika A, 189.
“2 R. STAMMLER, Wirtschaft S. 87: „Es widerstreitet einer möglichen