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keit des Staates der germanischen Welt am Beginne ihrer po-
litischen Geschichte zeigt sich vor allem darin, dass ein wich-
tiges Element des vollendeten Staates sich erst nach und nach
in ihm herausbildet. Der germanische Staat (sie!) ist ursprünglich
völkerschaftlicher Verband, dem die stetige Beziehung zu einem
festen Territorium mangelt. Die dauernde Verknüpfung des Ge-
bietes mit der Völkerschaft hat sich erst in historischer Zeit
allmählich vollzogen.“ Noch wirrer ist die Ansicht eines Histo-
rikers, der behauptet: „Der Staat der alten Völkerschaft der
Urzeit (gemeint ist die Sippenorganisation) mit seiner engsten
militärisch-kameradschaftlichen Bindung besteht jetzt nicht mehr;
er hat einem ausgedehnteren Staatswesen Platz gemacht, dem des
Stammes “ 82,
Es ist das nicht bloss eine leichtfertige Terminologie °®, son-
dern die Gründe hierfür liegen tiefer. So wichtig die Erfor-
schung des sozialen Lebens der Menschen für diese selber ist,
man hat sie doch recht verabsäumt®. Das Vorwiegen der Na-
turwissenschaften in den letzten Jahrhunderten hat die Haupt-
schuld daran; man hat in der Sorge um die physischen Wissen-
schaften die Geisteswissenschaften in den Hintergrund gedrängt,
damit den Menschen und das spezifisch Menschliche vernachläs-
sigt. Nur selten geht man an diese Probleme heran — es sind
82 K, LAMPRECHT, Geschichtswissenschaft S. 33; Deutsche Geschichte I,
S. 101 sagt er: „Der Staat der germanischen Urzeit ist begründet auf Völker-
schaft und Hundertschaft, Organismen, in welchen eine genauere Betrach-
tung unschwer den Stamm und das Geschlecht des mutterrechtlichen Zeit-
alters wieder erkennt.“ Vgl. auch H. Brunner |, S. 158; S. 180: „Der
germanische Staat“! O. SCHRADER, Reallexikon S. 791; R. SOoHM, Gerichtsver-
fassung S. 8 u. 9.
83 R. STAMMLER, Wirtschaft S. 172: „Es steht jedem frei, Wort und
Begriff „Staat“ auf irgend welche Rechtsgemeinschaft anzuwenden und
niemand ist gerade an die moderne Vorstellung von einem Staatswesen da-
bei gebunden.“ Dieses Prinzip wende man einmal überhaupt in der Wissen-
schaft an; welches Chaos würde daraus entstehen!
8 Vgl. den Eingang zu dem eben zitierten STAMMLERSchen Werke.