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Das Öffentliche Recht in Ibsens Volksfeind. Von Dr. Leo
Vossen, Rechtsanwalt am Oberlandesgericht in Düsseldorf.
In dem im Titel genannten herrlichen Drama, in welchem Ibsen zum
erstenmal für unbedingte Wahrheit auch im öffentlichen Leben in die
Schranke tritt, wird uns gezeigt, welch unüberbrückbarer Zwiespalt zwischen
den Ansprüchen der Gesamtheit gegen den einzelnen auf seine Eingliede-
rung in das grössere Ganze und dem Recht des Einzelnen auf Behauptung
seiner Individualität innerhalb dieses grössern Ganzen besteht: oder viel-
mehr es wird, streng juristisch gesprochen, der niemals ganz zu lösende
Konflikt zwischen dem sogenannten „öffentlichen Wohl“ nach seiner offi-
ziellen Definition durch manche leitenden Männer und der Freiheit der
Meinungsäusserung und Selbstbetätigung des einzelnen Staatsbürgers unter
die kritische Lupe genommen.
Zwei mächtige Gewalten sind es, gegen welche der Einzelne, der seine
eigene Meinung und sein Recht gegenüber der Gesamtheit verfechten und
durchsetzen will, zu kämpfen hat und im Kampf mit welchen er unter
normalen Verhältnissen unterliegt, nämlich einmal die „kompakte Majorität“,
d. h. die offizielle Parteischablone nach dem Willen der Parteihäuptlinge,
und zweitens die hohe Bureaukratie, die Autorität der offiziellen Beamten,
welche auch Menschen sind und, im Besitze der Macht, im Kontlikt mit
dem schwächeren Einzelnen oft genug das Recht sich unter die Macht
beugen heissen. Die „leitenden Männer“ sind es, gegen welche unser Dichter
hier zu Felde zieht und von welchen er im vierten Akt durch den Mund
des Dr. Stockmann erklärt, dass er sie in der Seele nicht leiden möge
gleichviel, ob sie nun als offizielle Behördenvertreter oder als offizielle
Parteihäuptlinge im Kampf mit den wenigen geistig Vornehmen und
Freien die grosse Masse der Unwissenden und geistig Unreifen am Gängel-
bande führen!
Ueberzeugen wir uns näher, welche Taktik der Feldmarschall dieses
Feldzugs für die Wahrheit und geistige Freiheit gegen die Lüge und gei-
stige Beschränktheit eingeschlagen hat, so finden wir gerade auf dem Gebiete
des Rechts ein in der Tat bewundernswertes, gewissermassen instinktives,
feines Gefühl für den Unterschied zwischen „Recht“ und „Interesse“,
zwischen richtig verstandenem „öffentlichem Wohl“ und fälschlich „öffent-
liches Wohl“ genanntem finanziellen Privatinteresse einer einzelnen Ge-
meinde; Distinktionen, welche trotz ihrer oft haarscharfen Feinheit für das
Verhältnis zwischen Macht und Recht, zwischen Staat und Individuum von
geradezu fundamentaler Bedeutung sind, welche aber selbst unsere
höchsten Gerichte nur erst teilweise und in verschwindendem Masse zu er-
fassen begonnen haben, weil diese Probleme eben trotz aller Feinheit doch
nicht unmittelbar dem juristischen Begriffshimmel angehören, sondern über