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die andere den Inhalt non a setzt, nicht nebeneinander gelten,
wenn das System vernünftig sein und das den Nor-
men unterworfene Pflichtsubjekt jede Norm befolgen können soll,
ohne eine andere Norm desselben Systems zu verletzen. Von dem
allgemeinen logischen Grundsatz, daß das Urteil a mit dem Ur-
teil non a unvereinbar ist, unterscheidet sich das spezielle logische
Prinzip der Normerkenntnis dadurch, daß nicht entweder die
Norm a oder die Norm non a gültig sein kann, wie
entweder das logische Urteil a oder das logische Urteil non a
wahr ist, sondern daß nur die jüngere von beiden Normen
gültig sein kann unter der Voraussetzung, daß es Normen des-
selben Systems sind. Die Forderung, daß die jüngere der älteren
Norm vorangehe und nicht umgekehrt, ist eine rein logische
Konsequenz, die sich aus der Natur der Norm und dem Wesen
der Einheit inn Normsystem ergibt. Der Interpretationsgrundsatz der
lex posterior gilt offenbar nicht zwischen zwei verschiedenen Nornı-
systemen. Ein jüngerer Rechtssatz des französischen Rechts-
systems kann keinen älteren Rechtssatz der österreichischen Rechts-
ordnung aufheben und irgendeine noch so alte Moralnorm bleibt
in ihrer Sollgeltung gänzlich unberührt von jeder beliebigen spä-
ter statuierten ihr widersprechenden Rechtsnorm. Zwei einander
widersprechenden Normen verschiedener Systeme gegenüber steht
das Pflichtsubjekt tatsächlich vor der Frage: Entweder die
eine oder die andere Norm anzuerkennen, und das Dilemma ist
nach logischen Prinzipien nicht zu lösen. Daß zwischen ver-
schiedenen Normsystemen eine Konfliktsmöglichkeit besteht, daß
das Pflichtsubjekt zu den Normen zweier verschiedener Systeme in
eine Pflichtenkollision gesetzt werden kann, das rührt einzig daher,
daß der Grundsatz der lex posterior hier nicht zur Anwendung
kommt. Worin besteht aber die Einheit eines Normensystems ?
Welche gemeinsame Eigenschaft müssen mehrere Normen haben,
damit sie zu demselben System gehörig erkannt werden und die
fragliche Interpretationsregel in ihrem gegenseitigen Verhältnis