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die Möglichkeit gewesen, die Kompetenz-Kompetenz weder dem
Reich noch den Ländern zu gewähren und solchermaßen das Ku-
riosum einer souveränen Rechtsordnung (nach herrschender Termi-
nologie: der Rechtsordnung eines souveränen Staates) zu schaffen,
die sich selbst die Kompetenzhoheit abspricht!
Wenn man auch das Oktoberdiplom eher für ein politisches
Programm denn für ein ausreichendes Verfassungsgesetz halten
muß, durch welches juristisch ein neuer Staat begründet wer-
den sollte, ist die gewaltige Lücke nicht zu rechtfertigen, die da-
durch offen gelassen wurde, daß das für die staatsrechtliche Ge-
staltung der Monarchie grundlegende Verhältnis zwischen Reichs-
und Landesgesetzgebung ungeklärt geblieben ist. Auch die in
teilweiser Ausführung des Oktoberdiploms erlassenen vier Landes-
statuten (von Steiermark, Kärnten, Salzburg und Tirol) füllen
diese Lücke nicht aus.
$5. Reichs- und Landesgesetznach dem
Februarpatent von 1861.
Eine juristische Kritik des Oktoberdiploms hat eine umso
theoretischere Bedeutung, als dieses Gesetz, wie man sich auszu-
drücken pflegt, nicht in Kraft getreten ist, aber viel mehr noch
deshalb, weil es strenggenommen gar nicht zum Maßstabe der Be-
urteilung der heute geltenden Verfassung genommen werden kann;
vom Standpunkte des Oktoberdiploms müßte die ganze fol-
gende Entwicklung für verfassungswidrig erklärt werden, denn das
unmittelbar anschließende Februarpatent, das sich als eine Durch-
führung des Oktoberdiploms ausgibt, das Basis und Bestandteil
der heute geltenden Verfassung bildet, ist als Gesetz vom Stand-
punkte des Oktoberdiploms ungültig, da es ohne die dort be-
dingungslos statuierte Mitwirkung eines Parlamentes. als einseitiger
Gesetzgebungsakt des absoluten Monarchen zustande gekommen
ist. Das Februarpatent ist nicht nur materiell eine von den födera-
listischen Prinzipien des Oktoberdiploms ganz verschiedene (zentra-
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