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Durchschnittsrichters hat mit der Auffassung des Volks über Treu und
Glauben, gute Sitten u. dgl. eine große Verwandtschaft. Mit Recht, inso-
fern es sich hier nicht um neu entdeckte Normen handelt. Schon längst
hat man die Regel aufgestellt, die Gesetze seien anzuwenden so wie sie
verstanden werden, nicht wie der Gesetzgeber sie sich gedacht hat (ScHLE-
SINGER in den Götting. Gelehrten Anzeigen 1864 S. 1974; BıinpDinG, Hand-
buch des Strafrechts I 1885 S. 456 f.; KRAUS in Grünhuts Ztschr. Bd. 32
S. 621). Der Leitsatz des Verfassers ist also im Grunde nur eine schärfere
Ausprägung und Begrenzung jenes alten Gedankens. Auch nützt dem
Verf. wenig die Behauptung, sein empirischer Typus des normalen Rich-
ters sei etwas ganz anderes als der „Gesetzgeber“, dessen Willen man bei
der Gesetzesauslegung zu Hilfe nehme (S. 79). Vielmehr besteht Wesens-
verwandtschaft zwischen den beiden Typen, nur daß man sich das eine Mal
die aus dem Charakter des Gesetzes zu erschließende wahrscheinlichste
Gestalt des Gesetzesverfassers konstruiert, im andern Falle die nach
den Zeitumständen wahrscheinlichste Gestalt des Gesetzesauslegers.
Denn bei Unmöglichkeit der Annahme eines physischen Gesetzgebers ist
der Gesetzgeber, richtig verstanden, die Konstruktion eines Menschen. dem
man die Urheberschaft des Gesetzes zutraut; ihn frägt man in Gedanken
bei zweifelhaften Fällen, und seine Antwort bildet die Grundlage der Ent-
scheidung. Endlich ist recht bedenklich, was Verf. von der Rechtslehre in
ihrem Verhältnis zur Rechtspraxis behauptet (S. 61). „Die Auslegung eines
Rechtssatzes durch die Rechtslehre und seine ‚Auslegung‘ durch den Rich-
ter sind wesentlich verschiedene Dinge.* Nein, die beiden Tätigkeiten sind
genau die gleichen. Denn wenn wirklich das Gesetz auf den Typus des
normalen Richters verweist, dann ist es Aufgabe der Rechtslehre, die Ver-
weisung zu berücksichtigen. Im übrigen hat der Richter nur die Ermitt-
lung des Tatbestands vor dem Rechtslehrer voraus.
Wie üblich beschränkt sich Verf. auf die Darstellung des Justiz-
rechts. Ihm allein sind auch die praktischen Beispiele entlehnt. Be-
sonderen Eindruck hat auf Verf. die Rechtsprechung des Reichsgerichts
über die Haftpflicht des Grundbuchrichters gemacht, der von einer Rechts-
anschauung des Reichsgerichts abweicht (8. 118 f.).. Daraus folgert Verf.
die Geltung seines Leitsatzes in der Praxis. Der Schluß ist aber nicht
zwingend. Zu den tatsächlichen dem einzelnen drohenden gesellschaft-
lichen Schäden gehört auch eine ungünstige richterliche Entscheidung.
Wenn daher der Grundbuchbeamte jemand durch Mißachtung der Recht-
sprechung schädigt, so haftet er selbstverständlich für den so von ihm
verursachten tatsächlichen Schaden, ohne daß daraus irgend etwas für die
Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Gesetzesanwendung gefolgert werden
darf. Reicher wäre die Ausbeute im Verwaltungsrecht gewesen. Hier hat
sich in der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte ganz allmählich und
unbewußt die Anschauung entwickelt, daß auch beim echtesten freien Er-