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schaftlichen Bindungen nach der deutschen Rechtsauffassung nicht als Be-
schränkungen der Einzelfreiheit erscheinen. Es ist aber — und dadurch kommt
diese an sich rein theoretische Erkenntnis erst zu praktischer Bedeutung —
in der Wirklichkeit des modernen Staats- und Rechtslebens tatsächlich die
Erscheinung nachweisbar, daß jenes alte deutsche Rechtsempfinden noch
heute eine starke Wirkung übt. Zwar ist uns heute der Gedanke der Ge-
nossenschaftlichkeit noch nicht wieder so in Fleisch und Blut übergegangen,
daß genossenschaftliche Bindung rechtlich überhaupt nicht als Beschränkung
empfunden würde, sie wird dies aber viel weniger als eine Bindung un-
mittelbar durch Handlung der Staatsgewalt. Und zwar handelt es sich hier
nicht etwa um vage gefühlsmäßige Auffassungen des Volks — obwohl diese
rechtspolitisch auch durchaus nicht gleichgültig wären — sondern um recht-
liche Gedanken der juristischen Theorie. der Verwaltungspraxis, der Recht-
sprechung und der Gesetzgebung. Nur ein Beispiel dafür bildet die Tat-
sache, auf die ich kürzlich hingewiesen habe (Verw.-Arch. XXI, 522 ff.,
538 ff.), daß auf dem Gebiete des Polizeirechts in allen diesen für das Rechts-
leben autoritativen Kreisen die Tendenz besteht, solche polizeilichen An-
ordnungen, die sich letzten Endes als eine Verwirklichung des Genossen-
schaftsgedankens darstellen, nicht als Beschränkungen der gesetzlichen
Freiheit des Staatsbürgers anzusehen. K. Wolzendorff.
Ernst R. Lepsius, Dr. jur, Die Elsaß-Lothringische Options-
frage. Halle a.d. S. 1913. Verlag der Buchhandlung des Waisen-
hauses.
Seit dem Krieg ist die Frage streitig, welche Personen durch den
Friedensschluß ihre Nationalität gewechselt haben.
Alle französischen Staatsbürger, welche in Elsaß-Lothringen geboren
sind oder am 2. März 1871 — dem Tag des Präliminarfriedens — dort ibren
Wohnsitz hatten, sind Deutsche geworden: Das ist die These, die von der
deutschen Regierung verfochten wird. Die These stellt sich dar als die Kombi-
nation von Abstammungs- und Domizilprinzip. Und doch beruft sich dieRegie-
rung merkwürdigerweise nur auf das Domizilprinzip ! Sie leitet seine Geltung
aus einer allgemeinen völkerrechtlichen Anerkennung her. Diese Begrün-
dung aber ist unrichtig. Es besteht weder eine Uebereinstimmung der
Autoritäten noch eine konstante Uebung, welche ein Prinzip festlegte für
den Nationalitätenwechsel im Falle der Zession. So wird ausführlich dar-
gelegt.
Die französische Regierung vertritt das reine Abstammungsprinzip.
Nur die in Elsaß-Lothringen geborenen Franzosen sind Deutsche geworden.
Die Doktrin wird darauf gestützt, daß die Friedensverträge nur über das
Optionsrecht der aus Elsaß-Lothringen herstammenden Personen be-
stimmen. —