Full text: Archiv für öffentliches Recht. Band 32 (32)

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$8 Die Kompetenzhoheit der Reichs- oder der 
Landeslegislative. 
Es ist ein offenbarer Widerspruch, wenn die herrschende 
Lehre auf der einen Seite die gegenseitige Derogierbarkeit von 
Reichs- und Landesgesetzen behauptet, auf der anderen Seite aber 
nur dem Reiche die Kompetenzhoheit zusprieht””. Denn wenn ein 
Landesgesetz einem Reichsgesetz derogieren kann, dann muß man 
annehmen, daß durch Landesgesetz die Kompetenz der Landes- 
gesetzgebung auf Kosten des Reichsgesetzgebers erweitert werden 
kann. Jedes Landesgesetz, das einem Reichsgesetz widerspricht. 
greift doch in die von dem Reichsgesetz in Anspruch genommene 
Kompetenz ein. Hätte der Landesgesetzgeber die Kompetenz- 
hoheit nicht. wäre jedes einem Reichsgesetz widersprechende 
Landesgesetz ungültig; die Annahme einer ausschließlichen Kom- 
petenzhoheit des Reiches ist gleichbedeutend mit der Proklamie- 
rung des Grundsatzes Reichsrecht bricht Landrecht. Der Interpreta- 
tionsgrundsatz lex posterior könnte in diesem Falle nur bei aus- 
drücklicher Anordnung durch den Reichsgesetzgeber Anwendung 
finden. 
Es bleibt schlechterdings unbegreiflich, wie man die Landes- 
ordnungen von 1861 und das 1867 abgeänderte Grundgesetz über 
die Reichsvertretung nebeneinander als gültig annehmen und da- 
bei dennoch nur dem Reiche die Kompetenzhoheit zusprechen 
kann! JELLINEK, der diesen fragwürdigen Standpunkt vertritt, 
kann zu seiner Begründung nichts anderes anführen, als „die 
Natur der Sache“ und die Tatsache, daß die Kompetenz der Länder 
durch Reichsgesetze faktisch geregelt wurde, so durch das 
Grundgesetz über die Reichsvertretung von 1867 selbst und durch 
die Einführung der direkten Reichsratswahlen mit dem Reichs- 
gesetz von 1873. Was nun die „Natur der Sache“ betrifft, so 
darf man wohl ruhig behaupten, daß dieses oft mißbrauchte, 
  
22 So z.B. GEORG JELLINEK a. a.0. S. 27 und 36.
	        
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