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Der Satz, daß zu einem gültigen Gesetz der übereinstimmende
Majoritätsbeschluß des Abgeordnetenhauses und des Herrenhauses
(bei einem Quorum von 100, resp. 40 Mitgliederu in beiden Häu-
sern) oder der Majoritätsbeschluß eines Landtages und die Sank-
tion des Monarchen erforderlich ist, diese Behauptung ist auf Grund
unserer Verfassung unrichtig, wenn sie bedeuten soll, daß ohne diese
Voraussetzungen kein gültiges Gesetz zustandekommen kann.
Denn wenn etwas im Reichs- oder Landesgesetzblatt im Namen
des Kaisers unter Berufung auf die (möglicherweise in Wirklich-
keit fehlende) Zustimmung des Reichsrates oder eines Landtages
unter Mitfertigung eines verantwortlichen Ministers kundgemacht
ist, dann liegt ein gültiges, alle, an die es gerichtet ist, rechtlich
verbindendes Gesetz vor. Alle Voraussetzungen eines gültigen
Gesetzes enthält der Art. 10 des Staatsgrundgesetzes über die
Ausübung der Regierungs- und der Vollzugsgewalt. Die Bestim-
mungen über Abänderung von Staatsgrundgesetzen, Quorum, Kom-
petenz des Keichs- und Landesgesetzgebers usw.
kommen für die Frage der Gültigkeit des Gesetzes rechtlich nicht
in Betracht. Ob diese Bestimmungen nicht irgendeine andere
juristische Bedeutung haben oder ob sie überhaupt als rechtlich
irrelevanter Gesetzesinhalt anzusehen sind, etwa als fromme Wün-
sche, politisch-moralische Normen und ähnliches, wird später zu
untersuchen sein.
Da die Bestimmungen über das Zustandekommen und die
Abänderung von Reichs- und Landesgesetzen für die Frage der
Gesetzesgültigkeit oder -Nichtigkeit irrelevant sind, erscheint das
ganze Problem des Verhältnisses von Reichs- und Landesgesetz
und die damit zusammenhängenden Probleme der Kompetenzhoheit
und Kompetenzabgrenzung gleichsam ausgeschaltet. Für die ge-
setzanwendenden Organe und die gesetzbefolgenden Untertanen exi-
stiert gar kein Gegensatz von Reichs- und Landesgesetzen, keine
Konkurrenz normsetzender Autoritäten. Es gibt nur eine Kate-
gorie von Gesetzen, die anzuwenden und zu befolgen sind, näm-
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