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1.
Auf den ersten Blick scheint der Frieden vor dem Kriege so
offenbar den Vorzug zu verdienen, daß man eine gegenteilige
Auffassung für unmöglich halten sollte. Was trotzdem für sie
geltend gemacht werden kann, ist von MOLTKE in dem Gedanken
ausgesprochen, daß Kriege notwendig seien, um die in einem
Volke sehlummernden idealen Kräfte anzuregen und so das Volk
vor Erschlaffung und dem Versinken in ein weichliches Genuß-
leben zu bewahren.
Aber so wenig man diesem Gesichtspunkte ohne weiteres die
Berechtigung versagen darf, so wenig ist er geeignet, die Friedens-
bewegung als verfehlt erscheinen zu lassen, und zwar aus einem
doppelten Grunde.
Sollte, wie MOLTKE zu meinen scheint, der Krieg durch eine
Art Naturgesetz gefordert werden, so wird er in dem Umfange,
wie es dadurch geboten ist, ganz von selbst und trotz aller ent-
gegenstehenden menschlichen Bestrebungen bestehen bleiben. Da
aber ganz gewiß nicht alle Kriege notwendig sind, so ist eine
Bewegung, die auf eine möglichste Verminderung der Kriege
hinausläuft, insofern berechtigt, als infolge jenes Naturgesetzes
von ihr nur die unberechtigten Kriege getroffen werden
können.
Der zweite Grund ist folgender. Auch wenn man dem Kriege
einen günstigen Einfluß auf die menschliche Kulturentwickelung
nicht bestreiten will, so wird man doch zugeben müssen, daß die
Gefahr besteht, Kriege häufiger zu führen, als es durch diesen
Gesichtspunkt gerechtfertigt ist. Man kann deshalb jedenfalls
nur dahin gelangen, neben einer Tendenz, die den Krieg zu be-
seitigen sucht, auch eine entgegengesetzte für berechtigt zu halten.
Die Entscheidung darüber, welche von beiden Tendenzen unter-
stützt werden soll, kann nur getroffen werden nach der Erwägung,
daß als der erwünschte Zustand die Innehaltung einer mittleren
Linie anzusehen ist. Dann aber verdient diejenige Tendenz Be-