Full text: Archiv für öffentliches Recht. Band 35 (35)

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rechts gesetzlich nicht festgelegt sind und die von 
der Wissenschaft aufgestellten, auch wieder eine 
allgemeine unbestimmte Fassung aufweisen. 
IX. Geltendes Recht ist Recht, auch wenn wir nicht genau 
wissen woher es uns gekommen ist. Weiß doch der entscheidende 
Richter selbst nicht, woher ihm nach langem quälenden Schwanken 
mit einemmale jene Eingebung kommt, die ihm Beruhigung und 
Sicherheit gewährt, und warum sie die erlösende Kraft geübt hat? 
„Er hört die Flut vom Felsen brausen, doch weiß er nicht wo- 
her sie rauscht“. Eines weiß er, vom Gesetz stanımt die Ein- 
gebung nicht, denn dieses läßt ilın meistens im Stich. „Hier steck 
ich schon! Wer hilft mir weiter fort?“ Gesetzgebung ist geistige 
Aussaat, von der Niemand bestimmen kann, wie sie 
aufgehen wird. Wir besitzen in Oesterreich zwei Landesgesetze, 
das eine zur Bildung von Bezirksvertretungen in Tirol, das andere 
über die Errichtung von Verwaltungsgemeinden in Niederösterreich, 
die bis heute Makulatur geblieben sind. Die Aprilverfassung 
des Jahres 1848, das Märzpatent vom Jahre 1849 sind nie ins 
Leben getreten; desgleichen nicht die Zuständigkeit der beiden 
Delegationen zur materiellen Gesetzgebung: Leges ab omnibus 
destitutae. Recht entsteht anderseits ohne Pflanzung durch 
Gesetz mit ungleich größerer Geltungssicherheit als gesetztes 
Recht und ohne Rücksicht darauf, ob und wann es gelingt, ihm 
mittels der juristischen Methode oder logisch formal beizukommen. 
Der Wechsel und die kaufmännischen Papiere sind solehe nicht 
gesetzte Pflanzen, deren Bestimmung der juristischen Botanik lange 
genug die größten Schwierigkeiten bereitet hat. Tiefsinniges, 
ethisches Recht wie jenes vom Versprechen als Verpflichtungsgrund 
war schon in Rechtssprichwörtern gefaßt, ehe förmliche Rechts- 
sätze es aufnahmen und die Theorie es konstruierte. Gleiches 
gilt vom modernen Kollektivvertrag. Das Verfassungsrecht der 
Staaten und Staatenverbindungen besteht, soweit es lebt und 
wie es lebt und darum nicht notwendig so, wie es im formellen 
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