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zur Wahl gestellt werden. Im Kampf der Meinungen braucht sich die
Rechtsphilosophie nicht nach der Art von STAHL wissenschaftlich für eine
unter ihnen zu entscheiden; immerhin bleibt nach dem Verf. auch das noch
Rechtsphilosophie, wenn man sich nur der Grenze zwischen Erkenntnis und
Bekenntnis bewußt bleibt und das Verhältnis seines Bekenntnisses zu den
möglichen anderen allseitig darlegt. Aber die Rechtsphilosophie soll unter
allen Umständen die persönliche Entscheidung wissenschaftlich vorbereiten,
indem sie die allgemeine Maxime politischer Aeußerungen und Einrichtungen
erschließt, sowie ihre Konsequenzen und ihr Verhältnis zu anderen Grund-
anschauungen feststellt. Es handelt sich also um eine „politische Parteien-
lehre* und der Verf. setzt sein System insoweit alsbald in die Praxis um,
als die grundsätzliche Gegensätzlichkeit der konservativen, liberalen und de-
mokratischen Weltanschauung bei den Fragen über Staat und Staatsformen,
Selbstverwaltung und Kirche, über Strafe, Ehe, Haus und Familie darge-
legt wird. Auch das Zentrum, das für den Verf. die „politische Organı-
sation der Kirche“ ist und der Sozialismus wird in diesem Zusammenhang
gestreift. Mit dieser staatspolitischen Würdigung wandelt der Verf. nach
dem Vorbild von MonTESQUIEU die Bahn, die auch ROSCHER in seinen
„Umrissen der Naturlehre der Demokratie“ (Sitzungsberichte der phil.-histor.
Klasse der Sächs. Akademie der Wissenschaften XI.) betreten hat.
Den Grundzügen der RADBRUCHschen Rechtsphilosophie kann ich nur
zustimmen. Mein Kolleg über Rechtsphilosophie baut sich seit 25 Jahren
auf dieser Grundlage auf.
Auch ich sehe im Zweck des Rechts das Hauptproblem der Rechts-
philosophie. Die Spekulation, welche im Formalismus und in der Metho-
denlehre aufgeht, halte ich für unfruchtbar. Niemand kann von den eigenen
Eingeweiden leben, und man braucht sich nicht zu wundern, daß unsere
Studenten, die zur praktischen Bewertung der kennengelernten Rechtsein-
richtungen angeregt sein wollen, von einer Rechtsphilosophie nichts wissen
wollen, die neuestens wieder unter der Flagge des Apriorismus segelt.
Aber auch den Verf. sehe ich hier noch auf einem Weg, auf dem ich
ihm nicht folgen kann. Der Begriff des Rechts soll nach RADBRUCH &
priori gegeben, nicht empirisch gewonnen sein.
Zunächst bin ich der Meinung, daß sich die Rechtsphilosophie nicht in
der Rechtsteleologie erschöpft — für eine derartige Annahme reicht die
kurze Ausführung S. 1—2 denn doch nicht aus —, sondern daß ihr ganzes
Ziel erst in dem GoETHEschen Forschungsbegriff Erscheinung gewinnt:
„Forschung strebt und ringt, ermüdend nie,
Nach dem Gesetz, dem Grund, Warum und Wie.“
Ursprung, Wesen, Bestimmung, Grenze, Gliederung und Zusammen-
hang des Rechts sind zu prüfen und es muß sich daher die Rechtsteleo-
logie mit einer allgemeinen Rechtslehre verbinden, in der vor allem BERG-
BOHM, MERKEL und BIERLING das Ziel und zwar einzige Ziel der Rechts-