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schiedenheiden und theoretische Schwierigkeiten hervorgebracht
hat. Wer das seither verflossene halbe Jahrhundert deutschen
Verfassungslebens als lernender und später als berufsmäßiger
Beobachter und Erklärer dieses Erzeugnisses von Geschichte, Po-
litik und Jurisprudenz miterlebt und in dieser langen Zeit sich
nicht nur ein juristisches Urteil über die Rechtsnatur des Reichs,
sondern auch ein politisches Urteil über die Entwicklungsfähig-
keit der einzelnen Einrichtungen zu bilden gesucht hat, der muß
sich gegenwärtig für berufen halten, sein Urteil darüber abzuge-
ben, ob die Reichsverfassung sich als die rechtliche Grundform
unseres deutschen politischen Lebens in allen ıhren Teilen be-
währt habe. Er darf sich auch durch keine äußeren Rücksichten
abhalten lassen, Mängel zu rügen etwa deshalb, weil seine Kritik
an die Grundlagen selbst zu rühren hat.
Wohl hat das Deutsche Reich in seinem nunmehr — die
31/sjährige norddeutsche Bundeszeit eingerechnet — halbhundert-
jährigen Bestande jene tatsächliche, politische und wirtschaftliche
Lebenskraft, juristische Handlungsfähigkeit und völkerrechtliche
Entwieklungs- und Entfaltungsmöglichkeit erwiesen, die es in-
stand setzten, in diesem Krieg seine Existenz im Kampf mit drei
Vierteln der Welt zu erproben und zu behaupten und ohne Zweifel
wiegt diese Tatsache schwerer als alle logische Erklärungs-
kunst und Rechthaberei in Fragen der Bestimmung der „recht-
lichen Natur“. Ob das Deutsche Reich seinen geschichtlichen
Erfolg als Bund oder als Staat erringen wird, dürfte kaum ent-
scheidend in die Wagschale fallen, wenn es gilt, für die
weitere Entwicklung seiner rechtlichen, wirtschaftlichen und sonsti-
gen Einriehtungen den Standpunkt zu bestimmen und die Weg-
richtung festzulegen.
Und dennoch ist diese rechtliche Natur ein bedeutsamerer
Faktor, als vielfach angenommen wird, denn er bildet in den le-
bendigen Kräften der Leitung tatsächlich ein sehr wesentliches
bestimmendes Element.