— 105° —
Durch die Art der Konstituierung seiner Zentralgewalt wurde
das Reich über die Form des völkerrechtlichen Staatenbundes, die
dem Deutschen Bund sein Gepräge gegeben hatte, hinausgehoben;
diese Erhebung erfolgte zwar nicht so weit, daß ein Einheitsstaat
aus den Staaten entstand, wohl aber soweit, daß über den Staaten,
die erhalten blieben, eine neue staatsrechtliche Gemeinschaft er-
stand, die durch ihre eigenen Organe über ihre Rechtsform zu
bestimmen vermag. Das Reich hat es selbst in der Hand, aus
sich zu machen, was es will. Vertragsmäßige und staatliche
Elemente sind in ihm in einzigartiger Mischung vorhanden. Wel-
chen Einfluß der Krieg und was ihm folgen wird, auf die Art
dieser Mischung ausüben wird, ruht im Schoße der Zukunft ver-
borgen.
Sicher aber ist schon heute festzustellen, daß die vertrags-
mäßigen Bundeselemente sich als stark genug erwiesen haben,
um neben den staatlichen Elementen auch über den Krieg hinaus
sich zu erhalten. Das Reich hat seine rechtliche Natur während
des Krieges nicht verändert. Seine unitarischen und förderativen
Elemente sind noch heute in wesentlich derselben Mischung vor-
handen, in der sie 1867 und 1870 bei den Gründungsakten zu-
sammengefügt worden sind und in der sie sich seither in den 50
Jahren norddeutschen Bundes- und deutschen Reichslebens erhalten
haben. Die Zuständigkeitsgrenze ist trotz einzelner Verschiebun-
gen in unitarischer Richtung doch im wesentlichen unverrückt
geblieben, wie auch die Hauptorgane des Reichs Bundesrat, Kaiser
und Reichstag sowohl in ihrer allgemeinen Bedeutung und Zu-
sammensetzung, als auch in ihrem wechselseitigen Verhältnis und
in ihren Zuständigkeiten im wesentlichen die gleichen geblieben
sind.
Die bedeutsamste Veränderung des Gesamtbildes, welche sich
in diesen 50 Jahren zugetragen hat, ist keine rechtliche, sondern
eine tatsächliche, nämlich die, daß das Reich den ihm von An-
fang an zugewiesenen verfassungsmäßigen Entwicklungsraum