Full text: Archiv für öffentliches Recht. Band 38 (38)

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bezeichnet ist. Nun ist es unbedingt zutreffend, wenn W. sagt: 
Ein Ziviljurist mag sämtliche „herrschenden“ oder nicht herr- 
schenden Definitionen für die Begriffe „Treu und Glauben“, „mit 
Rücksicht auf die Verkehrssitte“ am Schnürchen herzählen können: 
er wird trotzdem zur Entscheidung der einfachsten Klage aus 
Vertrag unfähig sein, wenn ihm die reale Kenntnis der Vertrags- 
sitte, das sozial-ethische Verständnis für die Erfordernisse von Treu 
und- Glauben und die psychologische Einfühlung in das Verhältnis 
beider zu einander nicht zu Gebote stehen. Genau so wenig, fügt 
jener Verfasser hinzu, könne der Praktiker der Verwaltung die 
einfachste Polizeiverfügung richtig erlassen, der des Verwaltungs- 
rechts ihre Gültigkeit beurteilen, ohne den politischen, staats- 
theoretischen Gehalt des mit der Formel des $ 10 II 17 ALR. 
bezeichneten Polizeigedankens sozialwissenschaftlich erfaßt zu 
haben. Geht das aber nicht zu weit? Als ideale Forderung lasse 
ich mir jenen Ausspruch gefallen. Die Praxis der Verwaltung 
zeigt aber herzlich wenig von jener „sozialwissenschaftlichen Er- 
fassung“ des Polizeigedankens, hauptsächlich bei den unteren und 
mittleren Instanzen. Immerhin erkennen wir an dieser Stelle einen 
für das bürgerliche Recht schon weit vorgeschrittenen Auflösungs- 
prozeß, der die harte Selbstverständlichkeit des Gesetzes in seiner 
Normgestalt leugnet und für die Rechtsentscheidung zu gedank- 
lichen Elementen greift, die außerhalb der Rechtsnorm selbst 
liegen. Den hierin liegenden gesunden Gedanken wird niemand 
verkennen und die Reaktion gegen eine öde Wortauslegung und 
ausschließliche Begriffsjurisprudenz begreifen. Dennoch möchte 
ich eine leise Warnung nicht unterlassen. Was für das bürger- 
liche Recht, wo, besonders aus historischen Gründen, die starre 
Bindung an das Gesetz das Gewöhnliche war, heilsam und frucht- 
bringend werden konnte, kann für das Verwaltungsrecht nur mit 
Vorbehalt empfohlen werden. Denn für die Entwieklung persön- 
licher Freiheit sowohl wie für den Schutz des objektiven Rechts 
waren wenig staatliche Funktionen so bedeutsam wie diejenige,
	        
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