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Staat in seinem Verhältnisse zum anderen Staat. Der Staat
aber in aller seiner Herrlichkeit hat für sich selbst doch keine
Moral und kein Gewissen ®°., Das müssen ihm die Menschen leihen,
die für ihn handeln und tätig sind, Staatsoberhaupt und Staats-
männer vor allem und wer sonst Einfluß hat auf das, was hier
geschieht. Und welche Moral sollen sie dabei zur Geltung
bringen? Die der Bergpredigt so schlechthin gewiß nicht. Aber
überhaupt nicht ihre eigene Moral als Einzelmenschen, die sie
sind, sondern diejenige, die der Staat haben müßte in seiner be-
sonderen Stellung, mit seinen gewaltigen Aufgaben und seinem
unersetzlichen Wert, die Staatsmoral, vermöge deren es für
ihn nur eine Todsünde gibt: sein Dasein und dessen freie Ent-
faltung nicht über alles zu setzen. Ueber diese Moral sagt dem
Staatsmann sein Gewissen nicht so ohne weiteres das Erforder-
liche, wie dem Schwarzwälder Bauern das seinige, von dem
HEBEL singt: „'s cha dütsch, Gott Lob.“ Hier handelt es sich
um eine besonders geschulte Moral und um eine besondere Unter-
abteilung der Moral, die gerade auch auf solche obrigkeitliche
Dinge paßt und zugeschnitten ist: die Gerechtigkeit ist in Frage.
Wenn man ernsthaft Moral predigen will, hilft es zu gar nichts,
in verschwommenen Allgemeinheiten zu bleiben. Ad hominem
muß demonstriert werden können, ohne auf Schritt und Tritt einen
durch die Natur der Sache begründeten Widerspruch herauszu-
fordern. Das kann hier nur die Gerechtigkeit.
Man hat dieser Notwendigkeit größerer Bestimmtheit des mo-
ralisch Geforderten auch schon dadurch entsprechen wollen, daß
man den Rechtssinn (Rechtsgefühl, Rechtsbewußtsein) hinter
das Völkerrecht stellte. Der bedeutet ja ein gewisses Verständnis
“ Für das Völkerrecht wäre es vielleicht besser, er hätte solches.
BLUNTSCHLI, Mod. V.R. S. 54, möchte ihm wohl dazu verhelfen: „Da sich
kein Staat seiner Menschennatur entledigen kann, so darf er sich auch
seiner Menschenpflicht nicht entziehen.“ In ähnlichem Sinne v. HoLzEn-
DORFF, Handb. d. V,R. S.60: „Nicht nur die einzelnen Menschen, sondern
auch die Nationen haben ein Gewissen.“