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für Recht und Rechtsordnung und die Neigung dafür einzutreten.
Er hat auch Verwandtschaft mit der Gerechtigkeit, insofern eben
das Recht selbst die Form sein soll, in welcher das Gerechte sich
verwirklicht. Recht und Gerechtigkeit können aber auch ausein-
ander gehen; dann ist das Festhalten am Recht keine moralische
Tugend *!. Oder das Recht ist unklar oder fehlt ganz; dann ist
mit dem Rechtssinn nichts anzufangen. Er hat keinen selbstän-
digen Wert *.
Gerechtigkeit ist die Gesinnung, die jedem das Seine
zukommen lassen will, constans voluntas suum cuique tribuendi.
Das Seine ist für jeden, was ihm zukommt, wenn alle grundsätz-
lich auf dem Fuße der Gleichheit behandelt werden und die
Besonderheitennach gleichem Maßstabe. Die gleiche Wage
ist das Symbol mehr noch der Gerechtigkeit als der Justiz *,
In diesem Sinne ergeht ihre Forderung vor allem an die
Machthaber, Eltern, Erzieher, Dienstherren, ganz besonders aber
auch an die Träger öffentlicher Gewalt: vor ihnen sollen die
Unterstehenden untereinander gleich sein und im Einzel-
fall nach demselben Maßstab gemessen werden für Gutes und
Böses — aequa lance *.
Für den Einzelnen aber, der einfach seinem Nächsten gegen-
#1 Shylock hatte sehr viel Rechtssinn, viel mehr als die rabulistische
Porzia.
+2 Einen solchen hatte allerdings in hohem Maße der Rechtssinn oder
das Rechtsbewußtsein in der Lehre der historischen Schule: die sah ja in
ihm geradezu den Schöpfer des Rechts; vgl. oben Note 9 und 10. Von
diesem überwundenen Standpunkt her ist immer noch eine gewisse Nei-
gung geblieben, die Bedeutung des Rechtssinnes zu überschätzen.
#5 RÜMELIN, Reden und Aufsätze S. 176 ff.: Ueber die Idee der Gerech-
tigkeit. PAULSEN, System der Ethik II 8. 138ff. KORNFELD, in Ztschft.
f. Rechtsphil. I S. 180 ff.
4 PAULSEN, System I S. 595, fordert von dieser Seite der Gerechtig-
keit (als einer „der drei Kardinaltugenden der Staatsgewalt*): „daß sie
den verschiedenen Gliedern des Volkes, den verschiedenen Gebieten, Be-
rufsständen, gesellschaftlichen Klassen, einem jeden das Gebührende gibt‘
— ohne’ „einseitige Bevorzugung“ einer Gruppe.