— 7 —
übersteht, lautet die Forderung entsprechend dahin, daß er diesen
grundsätzlich sich selbst gleich achte und ihm für seine
Daseinsäußerungen die gleichen Bewertungsmaßstäbe: zuteil wer-
den lasse, wie sich selbst *.
In dieser zweiten Gestalt gilt die Gerechtigkeit auch für den
Staat da, wo er nicht seinen Untertanen, sondern „seinem Näch-
sten“, dem selbständigen fremden Staat gegenübertritt: er soll
dabei ausgehen von der grundsätzlichen Gleichwertigkeit dieses
anderen mit ihm selbst und der Gleichartigkeit ihrer Ansprüche
auf Dasein und freie Entwicklung, die nach demselben Maßstabe
zu beurteilen sind, und soll sich dementsprechend seinerseits be-
schränken. „Auf daß dein Bruder neben dir leben könne.* Das
ist die Gestalt der Völkergerechtigkeit.
Der Geist soleher Gerechtigkeit ist die Lebensbedingung un-
serer großen Gemeinschaft der Kulturstaaten. Er ist insbesondere
auch die Voraussetzung des Völkerrechts: nur zwischen solchen,
die sich als gleichwertig behandeln wollen, ist es gedacht.
Es gibt Rechtssätze, die geradenwegs nur dazu da sind
eine Forderung der Gerechtigkeit zu befriedi-
gen oder sicherzustellen, ähnlich dem Billigkeits-
recht des Zivilrechts und Verwaltungsrecht. Dort finden wir
ja Bereicherungsklagen und öffentlichrechtliche Entschädigungs-
ansprüche, geordnet und hervorgebracht in den gewöhnlichen For-
men der Rechtsbildung, aber doch ganz und gar nur vermöge
der treibenden Kraft der Billigkeitsidee, die hinter diesen Rechts-
sätzen steht?*. Und in ähnlicher Weise begegnen wir im Völ-
+5 PAULSEN, System I S. 138: Die Gerechtigkeit als moralische Eigen-
schaft „hat ihre Wurzel in der Achtung vor dem Leben des anderen, als
einem mit dem eignen Leben gleichwertigen Selbstzweck.“ Sie fordert
(S. 139) „daß man das eigne Selbst nicht als etwas Besonderes ansehe,
sondern als einen bloßen Fall einer allgemeinen Norm unterwerfe.*
* Darüber O. M,, D. Verw. R. ILS. 521ff, Die Billigkeit (aequitas) ist
nichts als eine besonderen wirtschaftlichen Verhältnissen angepaßte Ge-
rechtigkeit.