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nie für die ganze Staatswissenschaft gelten wollte. Eine Konfundierung der
juristischen und der sozialen oder politischen Betrachtungsweise könnte nur
einen argen Rückschritt bedeuten.
Es dürfte manchen nicht ganz klar sein, was unter dem im Titel vor-
kommenden Ausdruck ‚Lebensform‘ zu verstehen ist. Im Sinne KJELLENSs
ist es als synonym mit Organismus anzusehen ($. 38). Unser Autor ist ein An-
hänger der organologischen Hypothese, was zunächst in dem Kapitel über
den Staat als Reich (wie es regelmäßig statt „Gebiet‘‘ heißt) zutage tritt.
Er bemerkt darin unter anderem, daß der Staat gleich einem Walde an einen
bestimmten Boden gebunden ist, aus dem er seine Nahrung saugt und unter
dessen Oberfläche auch seine einzelnen Bäume ihre Wurzeln miteinander ver-
flechten. Andererseits habe er aber auch Aehnlichkeit mit einer Tiergesell-
schaft, insofern die einzelnen Individuen des Staates die Fähigkeit haben, sich
frei zu bewegen, und daher auch außerhalb des Territoriums seinen Interessen
dienen können. (S. 53.) Dennoch werden schließlich alle außermenschlichen
Aehnlichkeiten vom Verfasser verworfen, weil der Staat geistiger Verbindungen
fähig sei, wobei auf die Funktion der Gesandtschaften und Konsulate als „be-
ständige Fühlfäden‘‘ in andern Ländeın und auf die der Verkehrslinien als
„Kraftleistungen‘‘ hingewiesen wird. Besonderen Wert legt KJELLEN auf
die Behauptung, daß Staaten sich nicht bewegen, sondern nur wachsen können.
Jeder Staat habe ein für alle mal einen festen Landkern, von dem er sich lebend
nicht losreißen kann. Die Lebensform des Staates sei die des Baumes, der an
bestimmter Stelle steht und fällt. Weiterhin meint KJELLEN, daß ein Staat
Volksverluste leichter als Landverluste ertrage, also mit dem Land solidarischer
sei, als mit dem Volk. ‚Können wir das verstehen ?“* föhrt er fort. „Ein Wort
sagt uns alles: ‚‚das Reich ist der Körper des Staates, das Reich ist kein Eigen-
tum wie die Hufe des Bauern; es gehört mit zur Persönlichkeit des Staates, es
ist der Staat selbst.‘ (S. 57). Schließlich weist der Verfasser darauf hin, daß
die moderne Anthropologie den Menschen ‚ein Stück hochentwickelter Erde“
nennt. Dies sei auch der Staat, auch er sei von einer Seite gesehen ‚entwickelter
Erdboden“. In dem Kapitel über den Staat als Volk wird hinwieder behauptet,
daß die Nation durch den Staat den höheren geistigen Inhalt erhält, der ihr an
sich fehlt. Ihre blinden Instinkte werden durch Staat und Recht gezügelt.
Jhre Naturkraft trete durch ihn in das Stadium der Vernunft und der Erkennt-
nis. Etwas später (8. 137) heißt es aber, daß nicht nur die Nation nach einem
Geist strebt, sondern daß auch der Staat eine Seele suche. Während die Nation
vom Staat einen vernünftigen Zügel erhält, schenke sie ihm das pulsierende
sinnliche Leben und die Einheit, ohne die er nicht zur Persönlichkeit werden
kann. Konstatieren wir endlich, daß der Verfasser auf S. 116 auch von der
Volksseele spricht, die ein viel verketzerter und dennoch sehr wirklicher Begriff
genannt wird und „‚jenen tatsächlich gegebenen, schwer zu erschütternden, rein
biologischen Persönlichkeitszug, jenseits von Gut und Böse, der zum Natio-
nalitätsbegriff gehört, bezeichnen soll.