Full text: Archiv für öffentliches Recht. Band 38 (38)

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Wir sehen also, daß der Staat als Reich nacheinander mit einer Pflanzen- 
gesellschaft, mit einer Tiergesellschaft, mit einer einzelnen Pflanze, mit einem 
einzelnen Menschen und schließlich mit dem Erdboden verglichen wird. Das 
Gebiet aber soll der Körper des Staates, gleich darauf aber der Staat selbst 
sein. Und dieser soll hinwieder die Vergeistigung der Nation, die Nation aber 
zugleich die Seele des Staates sein und überdies eine eigene Seele — die Volks- 
seele — haben! Man würde KJELLEN unrecht tun, wenn man ihn für diese 
arge Konfusion persönlich verantwortlich machen wollte. Die Organismus- 
theorie ist nun einmal so! Sie arbeitet mit den vagsten Analogien, sie jagt nach 
Bildern, von denen eins das andere totschlägt und läßt uns überdies sehr häufig 
im Zweifel, ja scheint oft selbst nicht zu wissen, ob das jeweilige „Bild“ nur 
bildlich oder im ganz eigentlichen Sinne zu verstehen ist. 
Was KJELLEN über den Staat als Volk und über das Verhältnis von Staat 
und Nation sagt, ist sichtlich nur von dem Fall abstrahiert, wo Staat und Nation 
sich decken; denn daß ein Staat mehrere Seelen hat oder daß eine Nation in 
mehreren Staaten — soll man sagen: vergeistigt oder verkörpert ? ist, erscheint 
selbst vom Standpunkt der gegen Widersprüche so toleranten Organismus- 
theorie nicht gut möglich. Die Folge davon ist aber, daß jeder Staat, der 
mehrere Nationen oder Bruchteile von solchen in sich schließt, mit dem Stigma 
des „Unorganischen‘ behaftet und weder lebensfähig noch zu leben berechtigt 
erscheint. Diese scheinbar so conservative und den Lehren der historischen 
Rechtsschule nahestehende Theorie muß daher wohl als die ärgste Feindin 
eincs Staates wie Oesterreich und insoferne als geradezu revolutionär und 
kriegserregend bezeichnet werden. Hat sie doch in ihrer populären Ausprägung 
dazu geführt, daß man Oesterreich gleich der Türkei als „kranken Mann“ 
und die parlamentarische Obstruktion als morbus Austriacus bezeichnete und 
daran die Erwartung eines baldigen letalen Ausganges knüpfte. 
Auch KseEıızn spricht natürlich vom Leben und Sterben, von Geburt 
und Tod der Staaten. Die völlige Unklarheit der von ihm vertretenen Lehre 
zeigt sich aber auch hier wieder, indem er die völkerrechtliche Anerkennung, 
also einen gewiß nicht organischen Vorgang als den Geburtsakt, wenige Zeilen 
später aber, sich verbessernd, als die Taufe eines neuen Staates bezeichnet 
(S. 209). Und beinahe wie eine Selbstverhöhnung klingt es, wenn er behauptet, 
daß untergegangene Staaten unter gewissen Umständen von neuem zur Teil- 
haftigkeit an einem späteren Staatensystem geboren werden können — ein 
Phänomen, das er als ‚‚Reinkarnation‘‘ bezeichnet. Also eine Auferstehungs- 
lehre, die durch den Hinweis auf die dynamische Kraft (!) der Nationalität plau- 
sibel gemacht werden soll; ihr Fallen bezeichnet den Untergang des Staates; 
warum solle dann nicht ihr neues Steigen die regelrechte Wiederkehr des Staates 
bezeichnen ? Die Bemerkung JELLINERs, daß diese Lehre jeder biologigchen 
Analogie spottet, wird damit jedenfalls nicht widerlegt. Und wer würde auch 
Archiv des öffentlichen Rechts. XXX VII. 2/4. 29
	        
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