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für das Staatsleben ist, so wird diese noch gesteigert durch
eine Eigenschaft, die ihre Brauchbarkeit für dessen Zwecke er-
höht. Ihre Forderungen sind ja keineswegs so ganz formlose Ge-
fühlssache. Die innere Verwandtschaft mit dem Recht gibt ihnen
eine bestimmtere Gestalt, als sonstige Moralforderungen haben.
Sie läßt sich lehren und zu einem System verarbeiten, ohne dabei
an Wert zu verlieren. Discite justitiam moniti et non temnere
Divos #, Sie wird dadurch erst verwertbar zur planmäßigen Er-
ziehung der bei der Regierung Tätigen sowohl wie auch der Massen
selbst, als ein Mittel, auf das man mit einer gewissen Zuversicht
rechnen mag.
In diesem Sinne kann sie dem Staate dienen noch nach an-
deren Richtungen hin, als das Völkerrecht sie bezeichnet. Es
stehen sich ja auch innerhalb seines Volkes selbst wieder große
und machtvolle Menschengesamtheiten gegenüber, deren wütende
Feindseligkeiten ihm Erschütterungen bereiten. Ausrotten lassen
sie sich nicht; nur Gerechtigkeit über ihnen und zwischen ihnen
vermag sie im Geleise zu halten.
Da haben wir vor allem den Kampf der Nationalitäten,
der ja auch über die Staatsgrenzen weg in das Gebiet des Völ-
kerrechtes sich hineinzieht. Dazu kommt der altüberlieferte Hader
der Konfessionen, dessen Feuer noch unter der Asche glimmt,
der soziale Kampf der Klassen, der politische Kampf der Par-
teien. Alles das wartet immer wieder nicht auf einen Macht-
spruch des Gesetzes schlechthin, sondern auf ein erlösendes Wort
der Gerechtigkeit. Ohne sie können an solchen Dingen Staaten
und Völker verderben®®.
5 RÜMELIN, Reden und Aufsätze S. 199 ff. unterscheidet zweierlei Ge-
rechtigkeit, eine „ideale, naive Gerechtigkeit, von unmittelbaren Gefühls-
eindrücken geleitet* und eine andere „realistische, rationelle, empirisch
geschulte und ausgebildete Gerechtigkeit“. Die letztere ist nach ihm die
Gerechtigkeit, „die erst den wahren Wert für Staat und Gesellschaft hat,
die Spezialtugend aller Obrigkeit“.
55 PAULSEN, Ethik II S. 140: „Das Parteiwesen der Todfeind der Ge-