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V. Das Völkerrecht ist seinem Wesen nach dazu verurteilt,
daß es in Formen des Rechtes nicht mit jenen Sicherheiten aus-
gestattet werden kann, die wir von einem wohlausgebildeten Rechte
verlangen. Die Gerechtigkeit, in Verbindung mit andern Rück-
sichten, die noch hereinspielen, wäre wohl imstande, zum Ersatz
dafür ausreichende Garantien moralischer Art zu liefern, womit
das Recht, wie ja auch das Staatsrecht bestätigt, sich begnügen
kann. Wenn sie überdies noch ergänzend und korrigierend wirkt,
so kann das ihr diese Aufgabe nur erleichtern. Warum ge-
lingt es ihr nicht? Daß es ihr nicht gelingt oder nur sehr
schlecht gelingt, haben unsere Augen gesehen. Also warum?
Weil sie gehemmt und abgelenkt wird durch eine querwir-
kende Gefühlsmacht, welche unsere Völker erfüllt: das ist die
Vaterlandsliebe, dieses edle Gefühl freilich nicht in seiner
Reinheit, sondern verzerrt und entstellt durch selbstsüchtige Be-
gierden, die sich in unserer Zeit ganz eigenartig damit verknüpfen
wollen. Die große demokratische Strömung, die durch die Welt
geht, hat überall den Staat dem Bewußtsein des Volkes näher
gebracht und jedem einzelnen fühlbar werden lassen, was seine
überragende Stärke und seine Erfolge den anderen Staaten gegen-
über auch für ihn bedeuten. Menschlicherweise tritt er für seine
Angehörigen jetzt wesentlich unter diesen Gesichtspunkt: die
Vaterlandsliebe wandelt sich durch solehe Vermischung mit Selbst-
süchtigem in eine Leidenschaft. Je nach dem National-
charakter nimmt diese verschiedene Formen an. Bei einem eitlen
Volke nährt sie sich von dem Glanze des Vaterlandes, den jeder
einzelne an seiner kleinen Person sich widerspiegeln fühlt. Bei
einem geldgierigen wird der Staat als das große Ausbeutungsmittel
geschätzt, das die Reichtümer anderer Völker zur Verfügung stellt.
Bei anderen gilt der Staat den Volksgenossen als die Gewähr der
rechtigkeit®; 8. 550: „Der mißtönende Nationalitätenhader, der den euro-
päischen Völkern gegenwärtig den Sinn für Wahrheit und Gerechtigkeit
abstumpft.*
Archiv des öffentlichen Rechte. XXXVII. 1. 3