Full text: Archiv für öffentliches Recht. Band 38 (38)

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V. Das Völkerrecht ist seinem Wesen nach dazu verurteilt, 
daß es in Formen des Rechtes nicht mit jenen Sicherheiten aus- 
gestattet werden kann, die wir von einem wohlausgebildeten Rechte 
verlangen. Die Gerechtigkeit, in Verbindung mit andern Rück- 
sichten, die noch hereinspielen, wäre wohl imstande, zum Ersatz 
dafür ausreichende Garantien moralischer Art zu liefern, womit 
das Recht, wie ja auch das Staatsrecht bestätigt, sich begnügen 
kann. Wenn sie überdies noch ergänzend und korrigierend wirkt, 
so kann das ihr diese Aufgabe nur erleichtern. Warum ge- 
lingt es ihr nicht? Daß es ihr nicht gelingt oder nur sehr 
schlecht gelingt, haben unsere Augen gesehen. Also warum? 
Weil sie gehemmt und abgelenkt wird durch eine querwir- 
kende Gefühlsmacht, welche unsere Völker erfüllt: das ist die 
Vaterlandsliebe, dieses edle Gefühl freilich nicht in seiner 
Reinheit, sondern verzerrt und entstellt durch selbstsüchtige Be- 
gierden, die sich in unserer Zeit ganz eigenartig damit verknüpfen 
wollen. Die große demokratische Strömung, die durch die Welt 
geht, hat überall den Staat dem Bewußtsein des Volkes näher 
gebracht und jedem einzelnen fühlbar werden lassen, was seine 
überragende Stärke und seine Erfolge den anderen Staaten gegen- 
über auch für ihn bedeuten. Menschlicherweise tritt er für seine 
Angehörigen jetzt wesentlich unter diesen Gesichtspunkt: die 
Vaterlandsliebe wandelt sich durch solehe Vermischung mit Selbst- 
süchtigem in eine Leidenschaft. Je nach dem National- 
charakter nimmt diese verschiedene Formen an. Bei einem eitlen 
Volke nährt sie sich von dem Glanze des Vaterlandes, den jeder 
einzelne an seiner kleinen Person sich widerspiegeln fühlt. Bei 
einem geldgierigen wird der Staat als das große Ausbeutungsmittel 
geschätzt, das die Reichtümer anderer Völker zur Verfügung stellt. 
Bei anderen gilt der Staat den Volksgenossen als die Gewähr der 
rechtigkeit®; 8. 550: „Der mißtönende Nationalitätenhader, der den euro- 
päischen Völkern gegenwärtig den Sinn für Wahrheit und Gerechtigkeit 
abstumpft.* 
Archiv des öffentlichen Rechte. XXXVII. 1. 3
	        
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