—_— 42 —
friedenheiten und Reformwünsche einzelner Gegenden oder auch einzelner
Einwohnerklassen im Lande. Eine reinliche Lösung der verfassungstechnischen
Probleme, die sich daraus ergeben, ist nicht erreicht worden, ist auch kaum
denkbar; denn die wirtschaftlichen und ethnographischen Verhältnisse im
Lande selbst sind wenig glücklich: Frankreich hat in Algerien im Lauf der
Jahre ungeheure Summen für öffentliche Anlagen investiert, hat aber keine
großen privaten Reichtümer, noch Aussichten für stark wachsende französische
Niederlassungen im Lande zu entwickeln vermocht. Das Land ist nicht reich
genug, um die Aufwendungen Frankreichs auch nur zu verzinsen; es hat alle
Mühe, seinen gegenwärtigen Staatshaushalt ohne Zuschuß im Gleichgewicht
zu halten!. Die französischen Ansiedler gehören überwiegend mittleren und
niederen Erwerbsständen an. Die spanischen Ansiedler im Westen und italie-
nischen im Osten der Kolonie haben, an ihrer Vermehrung bemessen, mehr
Vorteile aus den französischen Aufwendungen gezogen. Sie mußten zwangs-
weise durch eine besondere Naturalisationsgesetzgebung zu Franzosen ge-
stempelt werden, um der staatsrechtlich französischen Einwohnerschaft
wenigstens unter den Europäern zahlenmäßig einiges Uebergewicht zu ver-
schaffen. Die Juden im Lande, die größtenteils nur der Religion, nicht der
Rasse und Bildung nach, von den mohammedanischen Einwohnern verschie-
den sind, haben für staatliches und Gemeindewahlrecht völlige Gleichstellung
erreicht, zum Mißvergnügen der Franzosen und zum Neid der Mohammedaner,
zumal der gebildeten und franzosenfreundlichen. Die ärmsten der mohamme-
danischen Einwohner, die namenlose Masse im Lande, hat absolut von der
französischen Wohlfahrtspflege den größten Nutzen gezogen: von den verbesser-
ten Verkehrsverhältnissen, Arbeits- und Absatzmöglichkeiten, den Schulen,
Sparkassen, gesundheitlichen Verbesserungen usw. Diese Armen vermehren
sich aber so stark, daß ihre materielle Lage sich im allgemeinen nicht beson-
ders hebt; die natürlichen Hilfskräfte Algeriens, das zum großen Teil aus
Steppen, wüstem Land und Buschwäldern besteht, sind beschränkt, und die
Steigerung der Ernährungsmöglichkeit durch die höhere Kultur und bessere
ı 8. 450 A. 1 gibt GMELIN einige Ziffern aus der Verkehrs- und Finanz-
statistik. Er konstatiert erhebliche Fortschritte. Aber er hat ganz vergessen,
die Zahlen auf das Anwachsen der Bevölkerung und auf die allgemeine Steige-
rung der entsprechenden Ziffern in anderen Ländern zu reduzieren. Tatsäch-
lich ergibt sich, wenn man Algerien mit Ländern in ähnlicher Lage vergleicht,
eine förmliche Stagnation seit langen Jahren. Dies wird auch in Frankreich
vollkommen anerkannt und bildet einen Gegenstand der Sorge für die fran-
zösisohe Volkswirtschaft. Die wenigen Landeserzeugungen, die sich wirklich
in Algerien glänzend entwickelt haben, machen zum Teil (Weinbau, Anbau
von Frühgemüsen, Oelbau) Frankreich noch spezielle Sorgen, weil sie eine
lästige Konkurrenz für das Mutterland darstellen.