Full text: Archiv für öffentliches Recht. Band 38 (38)

— 483 — 
Organisation wird kompensiert dadurch, daß sehr viel mehr Kinder aufwachsen 
und Menschen leben wollen als früher. Die Folge hiervon ist, daß die durch 
Religion, Recht und Sitte des Islam abgesonderte eingeborene Bevölkerung 
im großen und ganzen auf dem alten niederen Niveau bleibt, infolgedessen 
noch heute ebensowenig wie zu Anfang zu staatsbürgerlicher Gleichheit mit 
den Europäern herangezogen werden kann, aber das Verlangen hiernach 
doch infolge der fortschreitenden Schulaufklärung immer mehr empfindet. 
Umgekehrt ist der französische Kolonist noch genau wie zu Anfang gezwungen, 
sich gegen diese Ureinwohner und ihre Forderungen zur Wehr zu setzen und 
zu diesem Zweck eine verfassungsrechtliche Sonderstellung zu verlangen. 
Was sein Verhältnis zum Mutterland betrifft, so bedarf er der starken Hand 
Frankreichs, um sich gegen die Ueberzahl der aufstrebenden mohammedani- 
schen Einwohner zu halten; andererseits empfindet er alle Eingriffe der fran- 
zösischen Regierung in seine eigenen Landesangelegenheiten als störend; und 
schließlich fühlt er sich als Franzose und legt Wert darauf, diese seine Zu- 
sammengehörigkeit mit dem Mutterland durch eine Mitwirkung algerischer 
Volksvertreter im französischen Parlament versinnbildlicht zu sehen. — Zu 
diesen mehr politischen kommen für Algerien noch außerordentlich heikle, 
rein wirtschaftliche Probleme, durch die Gesetzgebung, Verwaltungspraxis 
und Abmessung der staatlichen Rechtsphäre unangenehm erschwert werden; 
so z. B. der Schutz, die Nutzung und Aufforstung der Wälder, die Entwicke- 
lung der Olivenkultur und des Weinbaues, die Regulierung der Viehzucht, 
bei der ausforsttechnischen Gründen gegen die beliebte Ziegenzucht ange- 
kämpft werden muß; dann das Fiasko der Bergwerksunternehmungen, die 
Konkurrenz der Häfen; dazu in der Wüste und im Steppenland eine ganze 
Reihe von besonderen Problemen; außerdem die Frage der Staatsangehörig- 
keit, die ebenso schwierig als wichtig ist, sowohl den zahlreichen spanischen 
und italienischen Kolonisten gegenüber, wie bei den Eingeborenen an der 
willkürlich politisch gezogenen und oft geänderten Grenze im Westen, Osten 
und Süden. Von alledem erfahren wir durch GMELIN so gut wie nichts, und 
doch sind alles dies Probleme, die in dem Kolonialland von direkt bestimmen- 
dem Einfluß auf die Form der Verfassung sind und die immer wieder materielle 
Ausgangspunkte zur Kritik der geltenden Verfassungsordnung gebildet haben. 
Wenn man, wie GMELIN, nach dem heute geltenden Verfassungszustand 
Algerien (8. 331 ff.) nicht als Staat, sondern als überseeische Provinz, als ein 
Zwischenglied zwischen ‚„Untertanenland‘ und ‚Kolonie mit Repräsentativ- 
verfassung‘‘ charakterisiert, so ist damit juristisch nicht viel ausgedrückt. 
Tatsächlich haben wir es mit einem praktischen Kompromiß zwischen schwer 
löslichen praktischen Gegensätzen zu tun, der augenblicklich durchaus einen 
Typus für sich darstellt und sich in das System der typischen Kolonialver- 
fassungsformen eben nur durch negative Charakterisierung einfügen läßt. Daß 
Frankreich, trotz aller Unzufriedenheit in der Kolonie, Algerien ohne Erschütte- «
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.