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Doch muß der Versuch auf jeden Fall gewagt werden. Denn
man kann den englischen Föderalismus, das Hauptproblem des
englischen Staatswesens von heute, nicht verstehen, wenn man
nicht vorher die Home Rule-Möglichkeit für Irland durchdacht
hat.
Irland war durch die Union vun 1806 aus einem Untertanen-
land, dessen Abhängigkeit ein eigenes Parlament und die Selb-
ständigkeitsphrase der GRATTANschen Redekunst nur dürftig ver-
deckten, ein Teil des engeren Reichs geworden, dem die Herrschaft
über die halbe Welt zustand. Eine Staatsangehörigkeit, ein
Parlament, eine Regierung umfaßten England, Schottland, Irland
und Wales, diese vier Völkerschaften grundverschiedener Art, die,
zusammengebracht durch gemeinsam vergossenes Blut auf hundert
Schlachtfeldern wie kein anderes Volk von Stämmen sonst, doch
keinen Augenblick ihr Fremdsein vergessen haben, nicht zu
SHAKESPEARES Zeiten und seiner unsterblichen kauderwelschenden
Kapitanos, nicht in den Kontinentalkriegen und den amerikani-
nischen Kämpfen des 17. und 18. Jahrhunderts, nicht unter
MARLBOROUGH, nicht unter WELLINGTON, nicht unter ROBERTS
und KITCHENER. Eine Staatsangehörigkeit, ein Parlament,
eıne Regierung, nichts weiter. Eigene Kirchenverfassung, eigenes
Recht und eigene Gerichtsverfassung, die nur durch das lockere
Reichsband der letzten Berufung an das Oberhaus am Ganzen
hängt, eigene Wirtschaft, im Landbau zumal, eigene Lebensart
und besonderer Geist, in dem sich auch die alte Sprache zu immer
neuem Aufleben lebendig hält, jeder Vernunfts-Gleichmacherei
zum Trotz; ein eigenes Wappen auch und Wahrzeichen, das
Kleeblatt, mit dem am Tag des Volksheiligen SANKT PATRICK
auch in London jeder brave Ire sich schmückt ; ihren eigenen hohen
Orden, wie die Engländer den vom Hosenband und die Schotten
den Distelorden, so die Iren ihr Kapitel der Ritter vom
heiligen Patrick mit den kleegrünen Mänteln —, und welche
Macht der Welt könnte den Iren ihre eigenen Hausgespenster,