Full text: Archiv für öffentliches Recht. Band 38 (38)

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wie in Kanada, in Irland wie in Südafrika. Aber es ist längt ein 
toter Buchstabe. Nicht der König hat die Exekutive, sondern 
jener, in der Verfassung fast gewaltsam umgangene — es ist 
eine schlechte Parodie auf die heilige Scheu vor dem Aussprechen 
des göttlichen Namens — und doch in der Wirklichkeit all- 
mächtige Ausschuß der Parlamentsmehrheit, nach heutiger Uebung 
der Unterhausmehrheit, das Kabinett!5. Kein Engländer zweifelt 
  
  
15 In einem Leitartikel, der Pilotys „Parlamentarisches System“ be- 
spricht, schreibt die Frankfurter Zeitung (Nr. 93 Abendblatt vom 4. April 
1918) „Zunächst liegt das Wesen des Parlamentarismus, gerade wenn man 
den Gegensatz zwischen parlamentarischem und konstitutionellem System 
so sieht wie Piloty, nicht so sehr in dem Prinzip der Berufung von Partei- 
führern zu Ministern, als vielmehr in der Gestaltung des Verhältnisses zwi- 
schen Regierung und Parlament. Wenn letzten Endes der Kurs der Poli- 
tik nicht von der Regierung, sondern vom Parlament bestimmt werden soll, 
so dürfen die Minister nicht ein, von der Einwirkung des Parlaments un- 
abhängiges Dasein führen, sondern sie müssen an die Billigung und das 
Vertrauen des Parlaments gebunden sein, und sie müssen zurücktreten, 80- 
bald ihnen dies Vertrauen nicht mehr zur Seite steht; das und nichts an- 
deres ist der Kern des parlamentarischen Systems...“ Bei solchen Aus- 
führungen wird übersehen, daß in England, das doch nach wie vor als 
Musterland dieses Systems gilt, das Parlament viel mehr von der Regie- 
rung abhängig ist als die Regierung vom Parlament. Denn es gibt nun 
einmal keine noch so kleine Gruppe von Unabhängigen, von „Wilden“, im 
englischen Parlament, die von Fall zu Fall das ganze Kabinett oder ein- 
zelne Minister unter prüfender Aufsicht hielten und sie dadurch, daß sie 
ihnen Billigung und Vertrauen entzögen, stürzen könnten. Es gibt nur die 
Parteien, die ihren Einpeitschern gehorchen, und so lange die Regierung 
die Parteimaschine der Mehrheitspartei in der Hand hat — die Patronage- 
Sekretäre werden vom Premierminister ernannt und entlassen —, ist sie 
ihrer Sache vollkommen sicher. Jener angebliche „Kern“ des parlamenta- 
rischen Systems zeigt sich in England also nur in den äußerst seltenen 
Fällen, in denen während der Session die Mehrheitspartei durch eine ge- 
waltsame Sezession (liberale Unionisten) oder durch ständige Nachwahlver- 
luste in die Minderheit kommt; im übrigen entscheidet die allgemeine 
Wahl darüber, welcher Partei die Regierung zufüllt; diese Partei präsen- 
tiert ihren Führer als Premierminister, und er bildet sich sein Kabinett; 
diese Regierung aber herrscht dann über die Gesetzgebung, wie man weiß, 
absolut. Das ist durch die Parlamentsakte noch deutlicher gemacht; denn 
nur die Regierung, nicht etwa das Parlament oder die Mehrheitspartei, bat
	        
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