— 106 —
Die Abhandlungen gruppieren in sich 4 Abschnitte: Zum Werden der
Staaten, der Kaiser, Parlament und Volksversammlung, die staatsrechtliche
Verantwortlichkeit. Die beiden ersten Gruppen der Abhandlungen behandeln
Gewesenes und sind im Wesentlichen nur noch von historischem Interesse.
Besonders schön gelungen ist unter ihnen meines Erachtens der erste Auf-
satz über „den Versuch der Reichsgründung durch die Paulskirche®, in
dessen feiner warmherziger Beurteilung der damaligen Vorgänge man das
lebendige Interesse des Verfassers durchfühlt.
Von großem theoretischen Interesse ist dann die 5. Abhandlung über
die „Vereinbarung“, wichtig vor allem auch deshalb, weil die herrschende
Lehre in diesem Begriffe den Rechtsgrund des Völkerrechts sieht. Dieser,
meines Erachtens von BINDING stark überschätzte Rechtsbegriff ist eben
doch nicht imstande, faktische Vorgänge rechtlich zu erklären. BINDING sagt
S. 235/236: „Diese Vorstellung von der bindenden Kraft der Vereinbarung ist
sehr eigenartig: sie scheint nicht ganz frei von einem mystischen Element. Sie
geht dahin: durch die Verabredung eines gemeinsamen Wollens oder eines ge-
meinsamen Handelns entsteht eine Willensmacht über den Verabredenden,
der alle Teilnehmer an der Verabredung zu entsprechen haben. Die Verein-
barung wirkt also nicht eine einfache Addition von zwei oder drei inhaltlich
gleichen Willen, sondern sie schafft einen Willen über zweien oder dreien oder
Tausenden, dem sie alle Nachachtung schulden.“ „Damit deckt aber BInDInu
selbst mit aller Offenheit den „mystischen* Charakter und damit den
schwachen Punkt des ganzen Begriffs auf. Und gerade dieser mystische
Charakter der Vereinbarung hat auf die Erkenntnis des Wesens des Völker-
rechts nicht günstig gewirkt. So einfach, wie sich Bınnına das denkt,
(S. 242/243) läßt sich die Auffassung des Völkerrechts als „Aeußeres Staats-
recht* nicht widerlegen. Zuzugeben ist, daß bei letzterer Annahme die
Bindung der völkerrechtlichen Regeln dann nur solange besteht, als sich
der betr. Staat daran gebunden fühlt. Aber solange keine überstaatliche
Organisation vorhanden ist, läßt sieh diese Konsequenz nicht aus der Welt
schaffen. Sie entspricht jedenfalls mehr dem tatsächlichen Zustande, als
der Mystizismus der Vereinbarungslehre.
Die Abhandlungen der beiden letzten Abschnitte behandeln Probleme,
die noch jetzt im Vordergrunde des Interesses stehen. So schneidet Bın-
DING in der 8. Abhandlung „Das Problem der Bildung der Parlamente und
der Volksversammlung des Freistaats“ auch die Frage der berufständischen
Vertretung an. Er geht dabei von der Tatsache aus, daß das Repräsen-
tationsprinzip seine Quelle im Naturrecht habe und dadurch individualistisch
orientiert sei, während in dem Zusammenschluß zu berufständischen Ver-
bänden das kollektivistische Element vorherrsche. Und wenn BInDInG
(8. 308) von der berufständischen Gliederung sagt: „wir stehen hier am
Anfange einer großen Entwicklung, deren Ende sich noch nicht entfernt
absehen läßt“, so berührt er hiermit ein Hauptproblem der jüngsten Gegen-