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Völkerrechtes für das Bereich des Staatsrechtes geführt, die nur
gemäß der — das geschriebene Recht bevorzugenden — Tradition
der deutschen Rechtsgeschichte in Form eines geschriebenen Ver-
fassungsrechtssatzes auftritt. Artikel 4 der deutschen Reichsver-
fassung hat bekanntlich „die allgemein anerkannten Regeln des
Völkerrechts als bindende Bestandteile des deutschen Reichsrechts“
erklärt, und nach diesem Vorbild hat auch Artikel 9 der Bundes-
verfassung der deutschösterreichischen Republik „die allgemein
anerkannten Regeln des Völkerrechtes zu Bestandteilen des Bundes-
rechtes“ gemacht. All diese Bezugnahmen der Völkerrechts-
auf die Staatsrechtsordnung, der Staatsrechts- auf die Völker-
rechtsordnung sind Ausdruck einer Einbeziehung, einer
Einordnung oder Unterordnung. Die delegierte Ordnung
‘wird — materiell im wesentlichen unverändert — formell ein Teil
der delegierenden Ordnung, assimiliert sich ihr, ja wird von ihr
völlig absorbiert. Das völkerrechtlich rezipierte Staatsrecht geht
im Völkerrechte völlig unter, das staatsrechtlich rezipierte Völker-
recht geht im Staatsrecht völlig auf, die beiderseitige spezifische
Rechtsqualität geht in diesem Delegationsprozesse restlos verloren.
„Im Falle eine Unter- und Ueberordnung zwischen zwei Normen-
systemen angenommen wird, — was nur die bildliche Darstellung
des Verhältnisses der logischen Ableitung ist* (S. 113) — kann
im Grunde gar nicht mehr von zwei verschiedenen Ordnungen ge-
sprochen werden. Denn die niedere muß als in der höheren ent-
halten, muß als deren Bestandteil gedacht werden. „Die Vor-
stellung von zwei Ordnungen kann keine endgültige sein.* „Es
ist nur ein einziges Normensystem gegeben“ (S. 112). Das hat
bezüglich des Objektes der Rechtswissenschaft die radikale Kon-
sequenz, daß sie es nur entweder mit einem Staatsrecht oder
mit dem Völkerrecht, niemals mit beiden Systemen in — sei es
nun beziehungsloser oder beziehungsvoller — Vereinzelung zu tun
haben kann. Mit welchem — das ist ein metajuristisches Problem,
dem im folgenden an der Hand von KELSENs Ausführungen nach-